Der König Der Komödianten: Historischer Roman
auf, bereit, mit einem Satz aus ihrer Reichweite zu springen. Doch sie machte keine Anstalten, mir Matsch in den Mund zu stopfen oder mich sonst wie zu foppen. Sie stand auf Zehenspitzen vor mir und reckte mir ihr Gesicht entgegen, die Lippen sanft geschürzt und die Augen geschlossen. Sie wirkte eigenartig entrückt und dabei zugleich so konzentriert, dass die Spannung, die sie umgab, körperlich zu spüren war.
Ich erstarrte, als ihre Lippen sich auf meine legten, und mein Herz fing an, mit der Wucht eines Schmiedehammers zu schlagen.
Ihr Mund drückte sich auf den meinen, sacht und doch fest, und ihre Lippen waren so warm wie von der Sonne erhitzterHonig. Der Kuss war von einer so ungeahnten Köstlichkeit, dass ich vor Überraschung den Mund öffnete, sodass ihre Oberlippe meine Zähne streifte. Im selben Moment zuckte sie zurück, und ich fühlte mich um eine Verheißung beraubt, von der ich nur einen Lidschlag weit entfernt gewesen war.
Mit dem nächsten Atemzug huschte sie die Treppe hoch und war schneller verschwunden als ein Windhauch. Ich blieb wie vom Donner gerührt im Innenhof stehen und dachte einige irrwitzige Augenblicke lang, ich hätte mir alles nur eingebildet. Doch die Bibel, auf der Elena während des Kusses gestanden hatte, lag als Beweis zu meinen Füßen.
Es dauerte lange, bis sich mein jagendes Herz wieder beruhigte. Auf dem Weg in meine Kammer stieß ich mir im finsteren Flur nicht nur die Zehen, sondern ein paar Mal auch den Kopf, was jedoch keine Klarheit in meine Gedanken brachte, sondern meine heillose Verwirrung nur verschlimmerte.
Völlig ausgeschlossen, dass ich mich schlafen legte!
Wie Rodolfo hatte ich mich im Mezzà einquartiert. Dort waren die Räume kleiner und gemütlicher als im Piano Nobile, wo die Decken ungewohnt hoch waren und die Wände so weit auseinanderlagen, dass ich mir verloren vorkam. In einer Kammer neben der Küche hatte ich mir mein Lager bereitet, mit einem noch brauchbaren Strohsack, den ich im Gerümpel eines der Wirtschaftsräume aufgestöbert hatte.
Aufgewühlt stolperte ich in der Kammer herum und versuchte, die Dimensionen dessen zu erfassen, was mir eben widerfahren war. Elena hatte mich geküsst! Und dieser Kuss – mein erster überhaupt, jedenfalls von dieser Sorte – war ein so weltbewegendes Ereignis, dass ich außerstande war, es zu begreifen. Sobald ich es auch nur versuchte, fing mein Herz wieder an zu wummern!
Der Kragen wurde mir eng, ich konnte nicht richtig atmen. Der Drang, das Haus zu verlassen, wurde übermächtig, und so zündete ich ein Windlicht an und eilte nach draußen, zunächst in den Hof und von dort durch die Pforte hinaus auf die Gasse. Dort stromerte ich einfach los, bog in eine andere Gasse ab, überquerte einen Campo, dann eine Brücke, und ging weiter, ohne auf den Weg zu achten. Mir war gleichgültig, dass ich mich verirren konnte. Ich musste mich bewegen, vielleicht bekam ich davon einen freien Kopf !
Nach einer Weile des Herumlaufens wurde ich tatsächlich ruhiger. Meine Aufregung legte sich, und ich schaffte es, den einen oder anderen klaren Gedanken zu fassen und auch über Elenas mögliche Motive nachzudenken. Was andere Menschen dazu trieb, einander auf solche Art zu küssen, nämlich Liebe oder Begehren oder beides, konnte ich bei Elena getrost vergessen. Schließlich ließ sie keine Gelegenheit aus, mich aufzuziehen oder zu verspotten.
Ihr nächstliegender Beweggrund für diesen Kuss bestand folglich darin, dass sie mich – wieder einmal – in Verlegenheit bringen wollte, weil es sie freute, wenn ich mich tölpelhaft benahm. Diese Freude war zugleich ihr Wettgewinn. Sie hatte alles genau vorher geplant. Sogar an ihre geringe Körpergröße hatte sie gedacht und eigens die Bibel mitgebracht, um sich daraufzustellen!
Aus meiner Verwirrung wurde handfester Ärger, eine Regung, die mir im Zusammenhang mit Elena bestens vertraut war. Mit Ärger auf Elena konnte ich umgehen, den kannte ich mittlerweile zur Genüge. Am vernünftigsten war es, so zu tun, als tangiere es mich überhaupt nicht. Darüber wiederum ärgerte sie sich dann, was ihr recht geschah. Eine wirkliche Genugtuung bedeutete das zwar nicht für mich, aber es war besser als nichts.
Nachdem ich solchermaßen alles rekapituliert hatte, machte ich mich auf den Rückweg. Mein Orientierungsvermögen sagtemir, wohin ich mich wenden musste, obwohl ich mich in der Stadt nicht auskannte und keine Ahnung hatte, in welchem Sestiere ich mich
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