Der König Der Komödianten: Historischer Roman
so wie sie den riesigen Markusplatz einfach nur als Piazza bezeichneten und den ans Meer grenzenden Teil davon Piazzetta . Die anderen Plätze in Venedig, so erklärte uns Henry, nannte man schlicht Campi .
Seine nicht enden wollenden Erklärungen summten mir in den Ohren, und ich fürchtete, bis zum Abend alles wieder vergessen zu haben – zu beschäftigt war ich damit, all die überwältigenden Eindrücke in mich aufzusaugen. Nun stachen mir auch ungewöhnliche Details ins Auge, etwa die reichhaltigen, teilweise orientalisch anmutenden Verzierungen am Dogenpalast, oder aber die beiden riesigen Granitsäulen auf der Piazzetta. Zwischen diesen beiden Säulen, so berichtete Henry, würden die schlimmsten Verbrecher der Stadt enthauptet, und jeder dürfe dabei zusehen.
Schaudernd blickte ich zu den Säulen hoch. Die eine war gekrönt mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem geflügelten Löwen, während auf der anderen die Statue eines Drachenbezwingers thronte.
Besonders aber faszinierten mich die vielen fremdländisch aussehenden Menschen. Mit offenem Mund bestaunte ich einen echten Mohren, der, in schreiendes Rot gehüllt, einer tief verschleierten Dame beim Gehen half, da diese wegen ihrer abnorm hohen Schuhe nicht allein laufen konnte. Ein anderer Mann in grauem Kattun war klein wie ein Kind und hatte blauschwarzes Haar sowie merkwürdig geschlitzte Augen.
Ich sah Männer in vornehmen Samtwämsern und Frauen in leuchtenden Seidengewändern, aber auch Kaufleute in schlichtem Schwarz, uniformierte Wachleute, Matrosen in abgerissener Arbeitskleidung und hier und da auch zerlumpte Bettler.
Geschäftig gingen sie alle miteinander ihren Verrichtungen nach. Hier wurde entladen und geschleppt, gefeilscht und geredet, flaniert und geschaut – lärmende Hafenatmosphäre mischte sich mit pulsierender städtischer Lebensart.
Bei dem Versuch, alles gleichzeitig anzustarren, stolperte ich mehrfach über meine eigenen Füße, während ich half, die Kisten und Säcke auf die Handkarren zu laden, nachdem unser Boot an einem Steg vor der Piazzetta festgemacht hatte. Henry hatte sich freundlicherweise erboten, uns zu der Herberge mitzunehmen, wo auch er selbst immer abzusteigen pflegte, wenn er in der Stadt weilte.
Einen der vollgepackten Handkarren hinter mir her zerrend, folgte ich den anderen über den Platz. Vor mir zogen Cipriano und Rodolfo den zweiten Karren in die Richtung, die Henry uns wies. Franceschina und Caterina hatten Bernardo in die Mitte genommen; alle drei waren sichtlich beeindruckt von der sie umgebenden Pracht.
Endlos scheinende Säulengänge flankierten den Platz, ähnlich den Loggien in Padua, und über einem dort angrenzenden Durchgang erhob sich ein Uhrturm mit zwei lebensgroßen Mohren aus Bronze auf dem Dach. An der Fassade der Markusbasilika fiel mir inmitten der überbordenden Marmorornamente eine gewaltige, golden schimmernde Quadriga auf, von der Henry berichtete, dass sie einst den Triumphbogen des Nero zierte und später von Kaiser Konstantin mit nach Konstantinopel genommen wurde, bevor die Venezianer sie viele Jahrhunderte später als Kriegsbeute mit in die Lagune brachten.
Baldassarre schritt munter neben dem Engländer aus und blickte sich freudestrahlend um. »Wie gut es tut, diese Perle der Adria wiederzusehen!«, hörte ich ihn sagen. »Ich hatte schon fast vergessen, was für eine herrliche Stadt das ist!«
Befremdet wandte ich mich an Elena, die neben mir ging. »War dein Großvater früher schon einmal in Venedig?«
»Keine Ahnung«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Ebensowie ich stand sie völlig im Bann der vielen neuen Eindrücke, ich merkte es an ihrer blassen Haut und dem unsteten Blick. Zweifellos war sie von ähnlich widerstreitenden Empfindungen beseelt wie ich – am liebsten hätte ich mich in einem stillen Winkel verkrochen, um all das Überwältigende zu verarbeiten, aber gleichzeitig wäre ich gern losgelaufen, um alle Ecken und Winkel dieses ebenso betörenden wie fremdartigen Ortes auf einmal zu erkunden.
»Das ist alles ziemlich gewaltig hier, oder?«, fragte Elena. Ihre Stimme klang ungewohnt hilflos.
Ich nickte schweigend. Ja, das war es. Ich fühlte mich wie ein Maultier nach einem Faustschlag auf die Nase. Doch wen nahm es wunder! Bis vor ein paar Wochen war unser Dorfkirchlein für mich der Inbegriff kultureller Abwechslung gewesen. Venedig dagegen war eine der größten Städte der Welt. Nirgends sonst trafen so viele Menschen aus aller Herren Länder
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