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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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akzeptierte es.«
    Schatten bewegten sich seitlich über das Gesicht des alten Mannes, als er den Kopf senkte und das Glas in seinen schweren, zerfurchten Händen neigte. Er betrachtete das Licht, das durch das verrutschende Eis leuchtete.
    »Michael war dreieinhalb Jahre alt, als er starb. Der Krebs brauchte sieben Monate, um ihn umzubringen.« Er blickte auf, und ich sah, dass seine Augen trocken waren. Trotzdem schimmerte der Schmerz hindurch. »Über diese Monate brauchen Sie keine Einzelheiten zu hören, Work. Es genügt, wenn ich sage, sie waren ungefähr so schlimm, wie man es sich nur vorstellen kann. Niemand sollte so etwas erleben müssen.« Er schüttelte den Kopf und schwieg. Als er schließlich weitersprach, war seine Stimme leiser geworden. »Doch wenn Michael nicht gestorben wäre, hätten wir William nie bekommen. Auch das zu sagen fällt mir schwer, und meistens kann ich dieser Tatsache nicht ins Gesicht sehen, nicht so, als wäre es ein Handel gewesen. Michael ist heute eine Erinnerung, ein unerfülltes Versprechen, aber William ist real, und er ist es seit fast fünfzig Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Leben sonst verlaufen wäre. Vielleicht wäre es besser gewesen. Das werde ich niemals wissen; ich weiß nur, wer der Sohn ist, den ich jetzt habe, und das lässt sich von allem andern nicht trennen.«
    »Ich verstehe nicht, warum Sie mir das erzählen, Dr.
    Stokes.«
    »Wirklich nicht?«
    »Tut mir leid. Ich kann im Moment nicht besonders klar denken.«
    Er beugte sich vor und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich spürte ihre Wärme und den Sog seiner altersklugen, wissenden Augen.
    »Die Hölle währt nicht ewig, Work. Und sie ist nicht bar jeder Hoffnung. Das hat mich sein Tod gelehrt: dass man niemals weiß, was auf der anderen Seite wartet. Für mich war es William. Auch auf Sie wartet etwas. Sie brauchen nichts als Ihren Glauben.«
    Ich dachte über seine Worte nach. »Ich war schon lange nicht mehr in der Kirche«, sagte ich und spürte den Druck seiner geübten Hand, als er aufstand und sich auf meine Schulter stützte. Das Licht schien ihm ins Gesicht, als er sprach.
    »Es braucht nicht unbedingt diese Art von Glauben zu sein.« Ich folgte ihm durch das Haus und hielt ihn an der Tür fest. »Welcher Glaube dann?«, fragte ich.
    Er drehte sich um und klopfte mit der flachen Hand an meine Brust, dicht über dem Herzen. »Was immer Ihnen weiterhilft«, antwortete er.

ZWANZIG
    E s war vier Uhr morgens, kalt und feucht. Ich starrte auf das Loch. Ein Schlund in der Erde, ein schwärzeres Schwarz, als ich es je gesehen hatte. Ein fahles Grau erhellte die Welt ringsumher, und ich fühlte mich nackt in diesem bleichen Licht. Ich hockte im Unkraut am Rande des Parkplatzes. Eine steile, farnbewachsene Böschung führte hinunter zum blinkenden Wasser. Es gurgelte träge um den Müll, der von Unwettern an der Mündung des Tunnels abgelagert worden war. Die Überreste der Mall lagen hundert Meter hinter mir. Wie alles, erschienen auch sie unirdisch im spärlichen Licht — eine zerstörte Festung, umgeben von Bulldozern und Lastwagen, hartkantig und unbeweglich. Ich hörte ferne Geräusche, aber hier war es still. Nur das Wasser sprach, und seine Sprache war die von zwölfjährigen Jungen. Komm, sagte es, komm, tritt ein und fürchte dich.
    Ich hatte hinter dem Autoreifenhandel geparkt, der dem Gelände der Mall benachbart war. Er war natürlich noch geschlossen, aber dort parkten auch andere Autos, und der Pick-up würde keinen Verdacht erwecken. Meine Kleidung entsprach dem, was ich vorhatte: Sie war dunkel, und ich trug Gummistiefel. Ich hatte einen Baseballschläger dabei, und wenn ich im Besitz einer Pistole gewesen wäre, hätte ich auch die dabeigehabt. Und ich hatte eine schwere Taschenlampe, aber die Batterien waren ein wenig schwach. Ich hatte sie nicht überprüft, bevor ich hergekommen war, und ich wusste, wenn ich jetzt noch einmal ginge, um neue Batterien zu besorgen, würde ich vielleicht nicht wieder herkommen. Nie wieder.
    Von mir aus gesehen floss der Bach diagonal unter dem Parkplatz hindurch, in ungefähr dreißig Meter Abstand an der Mall vorbei und dann schräg weiter zur Innes Street. Der erste Gully war der, zu dem ich wollte. Er lag dem Eingang gegenüber, hinter dem Ezra gefunden worden war. Dort war die Waffe hineingeworfen worden. Ich wusste, was unter diesem Gully war: ein Betonsims, der dort aufragte wie ein Altar, und eine rotäugige Erinnerung, die

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