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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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darauf wartete, mich zu entmannen.
    »Scheiß drauf«, sagte ich. »Das ist lange her.«
    Ich stolperte durch das Gestrüpp, meine Füße gefährlich unsicher unter mir. Einmal fiel ich hin, war aber sofort wieder auf den Beinen und sprang dann mit einem Klatschen ins Wasser, das sich viel zu laut anhörte. Mein Gesicht war von Dornen zerkratzt, aber ich hatte immer noch die Taschenlampe, immer noch den Baseballschläger.
    Ich konnte nicht mehr zurück, und ich musste bald wieder weg sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, jeden Augenblick konnte ein Polizist vorbeikommen, und wenn man mich hier entdeckte, wäre alles aus. Zu viele Fragen, und nicht genug Antworten. So waren die Dunkelheit und der Tunnel diesmal meine Freunde, meine Zuflucht, und trotzdem klang mein Atem laut in der windlosen Schlucht zwischen den Böschungen.
    Ich hatte mir geschworen, nie wieder herzukommen.
    Ich knipste die Lampe an und betrat geduckt die niedrige Öffnung. Sie war kleiner als in meiner Erinnerung, niedriger und schmaler. Das Wasser reichte mir bis zur halben Wade, und der Grund fühlte sich genauso an wie früher: eine Mischung aus Steinen und tiefem Schlick. Ich leuchtete in die Tunnelröhre hinein. Quadratisch und nass erstreckte sie sich vor mir und löste sich in der Dunkelheit auf. Überall lagen alter Müll und totes Astwerk, und an manchen Stellen ragten schmale Schlammstreifen wie Alligatorrücken aus dem Wasser. Ich strich mit den Fingern über die Wand. Der Beton war glitschig und nass. Ich erinnerte mich lebhaft daran, dachte an Blut, Tränen und Schreie. Ich schlug mit dem Baseballschläger gegen die Wand und watete weiter.
    Nach zwei Dutzend Schritten war die Tunnelmündung hinter mir ein Viereck aus mattem Metall, wie die Vierteldollarmünzen, die ich als Kind auf das Bahngleis gelegt und dann aus dem Schotter gefischt hatte, wenn der Zug darübergefahren war. Noch zwanzig Schritte, und auch das war verschwunden. Ich war jetzt tief im Schlund, doch mein Atem klang gleichmäßig, und mein Herz schlug normal. Ich fühlte mich stark und erkannte, dass ich dies schon vor Jahren hätte tun sollen. Es war eine Gratistherapie, und ein Teil meiner selbst sehnte sich danach, den Dreckskerl zu finden, der mich beinahe zerstört hätte. Aber er war nicht mehr da. Er konnte nicht mehr da sein.
    Ich stürmte voran, entfernte mich mit jedem Schritt weiter von den Schrecken meiner Kindheit. Aber als ich den Sims unter dem Gully erreichte, war er leer. Keine Waffe. Einen Moment lang war es mir gleichgültig. In dem mattgelben Lichtkegel war der Sims fleckig wie von Blut. Ich starrte ihn an, und die Vergangenheit stieg herauf wie eine Erscheinung, jäh, bösartig und so real, dass ich sie berühren konnte. Und ich erlebte sie noch einmal die Angst, den Schmerz, alles. Aber diesmal ging es nicht um mich. Es ging um sie, und das war es, was ich sah: das klebrige Blut, schwarz auf ihren Schenkeln, ihre zerschlagenen Augen und den kurzen blauen Schimmer, als sie mir dankte.
    Lieber Gott. Sie dankte mir.
    Mir wurde schwindlig, dann waren meine Hände auf dem Beton, und meine Finger schürften darüber hin, als wollten sie die Vergangenheit herauskratzen. Doch es war nur Beton, und meine Finger waren nur Fleisch und Knochen. Ich musste an ein Kind auf dem Spielplatz denken, das schrie: »Vertragen wir uns wieder?« Aber das hier war nicht die Kindheit, und ich konnte mich mit niemandem versöhnen. Also ließ ich es hinter mir, schob es weg. Geschehen ist geschehen.
    Ich legte die Taschenlampe auf den Sims und wischte mir mit dem Ärmel über den Mund. Ich tauchte die Hände ins Wasser und tastete auf dem Grund umher, und meine Suche wurde immer hektischer. Ich fühlte Schlamm und Unmengen von Steinen, aber keinen Revolver. Die Lampe flackerte. Etwas bewegte sich an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Eine Ratte. Zwei. Die eine kauerte an der Wand, die andere schwamm gegen die Strömung an.
    Ich fiel auf die Knie und weitete meine Suche aus. Der Revolver musste hier sein! Wenn er ins Wasser gefallen war, konnte er nicht weit sein. Die Strömung war nicht stark. Aber dann dachte ich an Unwetter und an die mächtigen Flutwellen, die Müll und totes Geäst so weit in den Tunnel hineingetragen hatten. Konnten sie auch einen Revolver mitreißen? Weit wegtragen?
    Ich sah mich nach den Ratten um. Die eine war verschwunden. Die andere schien mich beinahe verächtlich zu beobachten.
    Vielleicht hatte Max sich getäuscht. Vielleicht

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