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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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sie mich und nicht Sie gerufen hat.«
    Alex blieb stehen, und plötzlich lag Entschlossenheit in ihrer Haltung und ihrem Ton. Sie war nicht mehr in der Defensive, sondern selbst aufgebracht und stinkwütend — die Alex, die ich so gut kannte.
    »So war es nicht«, erklärte sie.
    »Es war ein Hilferuf, Alex, und sie hat mich gerufen. Warum mich? Warum nicht Sie?«
    »Sie können unmöglich wissen, wie es war, und Sie könnten es nie verstehen. Bilden Sie sich nichts ein. Ihr seid alle gleich.«
    »Wer?«, fragte ich. »Wir Männer? Wir Heteros?«
    »Die Pickens-Männer«, antwortete sie. »Alle. Suchen Sie sich einen aus. Aber vor allem Sie und Ihr Vater.«
    »Versuchen Sie's«, sagte ich. »Erklären Sie es mir.«
    »Sie haben kein Recht, über uns zu urteilen.«
    Meine Stimme wurde lauter, und ich ließ es zu. Ich war wütend. Ich hatte Angst. Und ich ertrug den Vergleich nicht, den sie anstellte. Ich deutete auf die leere Haustür, auf die Diele, durch die sie meine Schwester zum Krankenwagen gerollt hatten.
    »Ich habe sehr wohl das Recht«, schrie ich. »Zum Teufel mit Ihnen, Alex. Ich habe das Recht. Sie hat es mir soeben gegeben, und daran können Sie nichts ändern. Wenn Jean am Leben bleibt — und beten Sie zum Himmel, dass sie es tut —, dann werden wir sehen, wer welches Recht hat. Denn dann werde ich sie einweisen lassen, damit sie die Hilfe bekommt, die sie braucht.«
    »Wenn Sie dann noch da sind«, sagte Alex, und ihre Augen glitzerten mit insektenhafter Eindringlichkeit. »Wollen Sie mir drohen?« Alex zuckte die Achseln, und ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Ich sage nur, wie es aussieht, haben Sie andere Sorgen. Andere Dinge im Kopf.«
    »Was wollen Sie damit andeuten?«
    »Ich will gar nichts andeuten. Ich stelle Tatsachen fest. Und wenn Sie jetzt fertig sind mit Ihrer Tirade, fahre ich ins Krankenhaus, damit ich bei Jean sein kann. Aber merken Sie sich eins.« Sie kam einen Schritt näher. »Sie haben niemals Macht über mich gehabt, niemals, und solange ich da bin, werden Sie auch über Jean keine Macht haben.«
    Ich sah Alex an, sah ihre aufgestaute Wut und spürte, wie meine eigene verrauchte. Wie hatte es so weit kommen können?
    »Sie hat gesagt, sie liebt mich, Alex. Trotz allem liebt sie ihren großen Bruder immer noch. Sie sehen also, ich brauche keine Macht über sie. Ich will sie auch nicht. Sie hat mich angerufen, und ich habe ihr das Leben gerettet. Wie ich es schon einmal getan habe, bevor Jean Sie kennenlernte. Denken Sie darüber nach. Und dann können wir uns überlegen, was wir tun können, um diesen Menschen zu retten, den wir beide so sehr lieben.« Wenn ich erwartet hatte, dass Alex klein beigab, hätte ich es besser wissen sollen.
    »Das habe ich nicht gemeint, Work, und das wissen Sie.
    Hören Sie auf, sich wie ein Scheiß-Anwalt zu benehmen.«
    Sie wandte sich ab und ging. Auf lautlosen nackten Füßen floh sie vor der Wahrheit. Ich hörte, wie die Tür zuschlug, hörte das gedämpfte Motorengeräusch ihres Wagens, und dann war ich wirklich allein in dem großen Haus, das ich schon so lange kannte. Ich betrachtete den Teppich vor der Treppe, die Blutlache, die den Raum mit ihrem eigentümlichen Geruch erfüllte. Fußspuren führten davon weg, und Räderspuren der Rolltrage; sie wurden heller und transparenter und verschwanden dann ganz. Ich sah Jeans Handy und hob es auf. Ich hielt es in der Hand und betrachtete das getrocknete Blut, das daran klebte. Dann legte ich es auf den kleinen Tisch neben der Tür. Ich sagte mir, dass ich eigentlich ins Krankenhaus fahren sollte, aber ich wusste aus bitterer Erfahrung, dass Jean überleben oder sterben würde, ob ich da war oder nicht, und ich war so müde, so sehr außerstande, noch einmal mit Alex zusammenzutreffen. Ich dachte an das große Bett im oberen Stock und sah mich auf den schneeweißen Laken; ich wollte mich hineinrollen, ihre Sauberkeit spüren und so tun, als wäre ich wieder ein Kind ohne Sorgen. Doch das konnte ich nicht. Ich war dieser Mensch nicht mehr, ich war kein Kind, und ich konnte niemanden täuschen. Also legte ich mich auf den Teppich, neben das trocknende Ödland des Lebens meiner Schwester.

ZWEIUNDZWANZIG
    I m Krankenhaus erfuhr ich, dass sie am Leben bleiben würde. Hätte ich sie eine Minute später gefunden, wäre sie gestorben. So schmal war die Grenze gewesen — ungefähr siebzig Herzschläge. Sie wollten nicht mehr als einen Besucher zu ihr lassen; deshalb schickte ich die Schwester hinein,

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