Der König der Lügen
Schreibtischplatte, als die Hand des Wärters über das Formular nach unten wanderte. Sogar sein Scheitel sah gelangweilt aus. Ich hätte mich gern gesetzt, aber die einzigen verfügbaren Stühle waren mit ledernen Haltegurten versehen, und darauf konnte ich mich nicht setzen. Die Gurte waren dick und fleckig von Schweiß und Blut, und in einem waren Bissspuren. Ich trat ein Stück zur Seite.
»Müssen Sie irgendwohin?«, fragte der ältere Wärter sarkastisch. Ich schüttelte den Kopf. »Entspannen Sie sich. Zeit ist das Einzige, wovon Sie jede Menge haben.« Dann beugte er sich wieder über seine Arbeit, und der Jüngere setzte sich auf die Schreibtischkante und pulte an seinen Fingernägeln.
Ich betrachtete die Wände und den Boden und versuchte, nicht zu der Tür zu schauen, die zu den Vernehmungszimmern führte. Ich war tausendmal hindurchgegangen, aber nicht heute. Heute würden sie mich durch eine andere Tür führen, durch die Tür zum Zellentrakt und den Insassen. Der Wärter hatte die Wahrheit gesagt: Zeit war das Einzige, was ich noch hatte, und in dieser Zeit spürte ich sie: die Realität. Nicht die Vorstellung davon, die Möglichkeit, sondern ihre Knochen, ihr Fleisch und ihr Haar. Ich war im Gefängnis, unter Mordverdacht — und in diesem Augenblick kam der Angstschweiß über mich. Er verzerrte den Raum und säuerte meinen Magen, und ich musste gegen eine jähe Übelkeit ankämpfen.
Ich war im Gefängnis. Man würde mich vor Gericht stellen.
Endlich war der ältere Wärter mit seinem Papierkram fertig und hob den Kopf. Sein Blick huschte über mich hinweg, und ich sah, dass er mich erkannte, aber er ignorierte meine offenkundige Not. Er hatte das alles schon gesehen, wahrscheinlich öfter, als er zählen konnte. »Zellentrakt vier«, sagte er, damit der junge Mann wusste, wohin er mich bringen sollte.
Ich folgte dem Wärter aus der zentralen Aufnahme in eine Welt, in der nichts mehr real erschien. Sie hatten mir die Uhr weggenommen, aber ich fühlte die späte Zeit. Wir kamen an kahlen Türen vorbei, und ich sah mein flackerndes Spiegelbild in den winzigen Fenstern mit den drahtverstärkten Scheiben.
Ich wusste bald nicht mehr, wie oft wir abgebogen waren. In realem Sinn drangen nur noch die Geräusche und Gerüche in mein Bewusstsein: das Klappern der polierten Schuhe des Wärters auf dem Zementboden, das Wispern der hautdünn abgetretenen Flipflops. Ein ferner Streit, der abrupt aufhörte. Metall auf Metall. Der Geruch von Desinfektionsmittel und dicht zusammengepferchten Menschen, ein leiser Hauch von Erbrochenem, das nicht meins war.
Wir drangen tiefer in die Anstalt ein, fuhren mit einem Aufzug nach unten und gingen durch einen weiteren Korridor. Die letzte Andeutung von frischer Luft blieb hinter uns. Ich folgte seinem Rücken, und er führte mich immer tiefer hinein. Einmal sah er sich nach mir um, und aus seinem Mund kam eine Frage, aber ich hatte nichts zu sagen; meine Gedanken flossen ineinander, zerbrachen und waren verloren. Ich fühlte mich wie ein Gejagter und schrak zurück vor unübersichtlichen Ecken und dunklen Nischen. Ich roch meine Angst und beneidete den Wärter um seine lässige Arroganz. Auf unserem langen Weg wurde er zu einem Gott, und allmählich graute mir vor dem Augenblick, da er mich an diesem Ort allein lassen würde.
Und so folgte ich ihm, so weit er mich führte, in das harte Vieleck namens Zellentrakt vier. Es war ein achteckiger Flur mit Türen ringsum, acht Türen, und hinter den kleinen Glasscheiben erblickte ich mehr als ein Gesicht. Eine Tür stand offen, auf die der Wärter zeigte. Bei der Tür drehte er sich um, und ich erkannte, dass er doch kein Gott war. Er wirkte unsicher und schien mit den Füßen zu scharren, ohne es wirklich zu tun. Endlich sah er mir in die Augen.
»Es tut mir leid, Mr. Pickens«, sagte er. »Sie waren immer sehr höflich zu mir.«
Dann winkte er mich hinein, schloss die Tür und ließ mich allein. Ich hörte, wie die Tür des Zellenflurs zuschlug, und dachte über den Wärter nach. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, aber ich musste es wohl; seine freundlichen Worte an diesem unfreundlichen Ort hätten mich fast zerbrechen lassen.
Und wie all die anderen namenlosen Mündel des großartigen Staates North Carolina drückte jetzt auch ich mein Gesicht an die Glasscheibe, als könnte ich allein mit meinem Gesichtsfeld das finstere Loch erweitern, zu dem meine Welt geschrumpft war. Auf der anderen Seite des
Weitere Kostenlose Bücher