Der König der Lügen
Zellenflurs sah ich noch ein Gesicht, ein Paar dunkle Augen, die über der vom Glas plattgedrückten Nase und dem schwarzen Schlitz des Mundes zu schweben schienen. Eine endlose Sekunde lang trafen sich unsere Blicke; dann löste er sich von der Scheibe und küsste sie mit schmalen, bärtigen Lippen. Ich schrak vor diesem Anblick zurück, aber ich konnte nicht wegschauen — nicht, bis seine Augen wieder da waren und mich verspotteten. Ich zeigte ihm den Finger und ließ mich auf die schmale, harte Matratze auf meiner Pritsche fallen. Das Herz hämmerte in meiner Brust, mein hastiger Atem umgab mich wie ein Nebel. So lag ich eine Minute lang da, dann hallte ein rauer Summton durch die harten Metallschranken meiner neuen Welt. Das Geräusch war kaum verklungen, als das Licht ausging und mich in einer Dunkelheit zurückließ, die so tief war, dass sie nur aus der Seele kommen konnte. Die Welt zog sich eng um mich zusammen, und in dieser Sekunde war ich wieder ein kleiner Junge, hilflos unter der Erde. Ich fühlte diese Hände an mir, die Stimme in meinem Ohr, den Atem, der nach verfaultem Fleisch roch.
Aber das hier war anders. Der Wärter hatte mich beim Namen genannt, Mr. Pickens, und diese Kindheit lag hinter mir. Also zwang ich mich aufzustehen, das stählerne Waschbecken zu umklammern, bis ich wieder langsamer atmete, dann ging ich im Dunkeln auf und ab, tastete mich voran wie ein Blinder. Und plötzlich dachte ich an Max Creason. Vier Schritte und kehrt, fünf Jahre lang — vier Schritte und kehrt. Er gab mir Kraft, und ich nahm die Zelle in Besitz und die Dunkelheit mit ihr. Ich ging auf und ab, und während mir zwar bewusst war, dass ich dieses Zwischenspiel überleben würde, wusste ich doch auch, dass ich niemals lebenslänglich hinter Gittern bleiben konnte. Besser wäre es gewesen, ich hätte auf der Brücke abgedrückt. So ging ich auf und ab und dachte nach, und im Lauf der Nacht wurde mir eins klar. Sollte es mir gelingen, hier herauszukommen, würde ich die Freiheit nie wieder als selbstverständlich hinnehmen. Den größten Teil meines Lebens hatte ich in einem Gefängnis verbracht, das ich mir selbst gebaut hatte, eingesperrt hinter Gittern aus Angst und den Erwartungen und Ansichten anderer, und nichts davon war wichtig, kein bisschen. Dass erst mein Vater ermordet und ich verhaftet werden musste, bevor ich das begriff, hätte mich fast zum Lachen gebracht, aber dies war nicht der Ort zum Lachen und würde es auch niemals sein. Also suchte ich nach einem Ausweg. Am nächsten Tag würde ich dem Haftrichter vorgeführt werden. Mit etwas Glück würde ich eine schnelle Kautionsverhandlung erwirken können. Irgendwie würde ich die Kaution aufbringen. Dann hätte ich ein bisschen Zeit bis zum Prozess. Ich würde einen Weg finden, oder ich würde zur Brücke zurückgehen.
So oder so.
Die Nacht dehnte sich, bis sie dünn war wie Haut, und ich ging auf und ab und dachte, dachte über sehr vieles nach.
SECHSUNDZWANZIG
I m Gerichtssaal drängten sich Anwälte, Journalisten und andere Beschuldigte. Ihre Verwandten waren da, Freunde, Zeugen — die übliche Mischung, aber ich sah vor allem die Anwälte. Sie füllten den Raum vor der Schranke aus, eine bewegungslose Menge, als hätten sie in meiner Abwesenheit das Recht zur Verurteilung für sich reklamiert. Ich suchte in ihren Gesichtern, als ich den Raum betrat, flankiert von zwei Wärtern, Stahl an meinen Handgelenken. Was ich suchte? Ein freundliches Lächeln. Ein Kopfnicken. Irgendetwas aus dem Leben, das ich immer gehabt hatte. Doch ich fand nichts. Ihre Blicke wandten sich ab oder wurden ausdruckslos, als sähen sie einen Fremden vor sich. So führte man mich zwischen ihnen hindurch und an ihnen vorbei zum Tisch der Verteidigung, wo ich tausendmal als einer von ihnen gesessen hatte, und da war Douglas, der mein Freund gewesen war, und bei ihm war Detective Mills. Sie beobachteten mich vom Tisch der Anklage aus, und wie alle andern hatten sie Schleier für ihre Augen gefunden.
In den frühen Morgenstunden hatte ich mich auf diesen Augenblick vorbereitet, und so konnte ich jetzt mit aufrechtem Rücken meinen Platz hinter dem Stuhl des Angeklagten einnehmen. Meine Handschellen klirrten, als ich die Hände auf die Stuhllehne legte, und die Gerichtsdiener traten zurück. Stille senkte sich über den Raum, bemerkenswert nur durch ihre Vollständigkeit. Sonst blieb immer ein Hintergrundraunen; Anwälte murmelten hinter vorgehaltener Hand, Gerichtsdiener
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