Der König der Lügen
mir den Leichnam zu zeigen. Warum?«
»Sie wissen, warum.«
»Für Jean.«
»Für Jean. So ist es.«
Im Nachklang seiner Worte dehnte sich das Schweigen. Für uns beide hatte Jean diese Macht, und wahrscheinlich war es das Einzige, was wir noch miteinander gemeinsam hatten.
»Es wird Ihnen nicht so sehr helfen, wie Sie glauben«, sagte er und meinte damit meine Anwesenheit am Tatort. »Ich werde es nicht zulassen.«
»Vielleicht hat es mir schon geholfen.«
»Was soll das heißen ?«
»Es soll heißen, dass man im Gefängnis eine Menge Zeit zum Nachdenken hat, Douglas. Jede Menge.«
Ich verspottete ihn, und jetzt endlich begriff er es. Aber ich hatte einen Punkt erzielt. Ich hatte Zweifel in ihm geweckt, wenn auch nur für einen Moment. Sein Gesicht verschloss sich — wie ein Kirmeskarussell, das plötzlich stehen blieb. Der Strom war einfach abgeschaltet, alles war still. Einen Moment lang war da etwas zwischen unseren Augen im Gange, eine Art von wortloser Kommunikation, wie ich sie nur ein- oder zweimal im Leben geführt hatte. Es war weniger eine Botschaft, die da übermittelt wurde, als vielmehr ein Gefühl, ein Gefühl der Kälte, wie ich sie im Gefängnis zu finden erwartet und seltsamerweise nicht gefunden hatte. Aber genau wie die Zelle waren auch seine Augen leer, dunkel und zeitlos. Dann verzog eine unergründliche Gefühlsregung seinen Mund zu einem grausamen Lächeln. Er nickte den Wärtern zu und ließ mich abführen.
Die nächsten Stunden schleppten sich dahin, während ich vielleicht vergebens — darauf wartete, dass jemand meine Kaution stellte. Sie hatten mir noch einmal ein Telefon gegeben, und ich hatte den einzigen Menschen angerufen, den ich anrufen konnte. Aber Barbara war nicht zu Hause, oder sie ging nicht ans Telefon. Also hinterließ ich meiner Frau eine Nachricht und wartete ab, ob sie mich vermodern lassen würde.
Sie sperrten mich in eine gepolsterte Ausnüchterungszelle in der Nähe der Aufnahmezentrale. Das hatte die Richterin veranlasst, nahm ich an. Irgendwann mochten die Wände weiß gewesen sein, doch jetzt waren sie braun marmoriert wie Wurzelholz. Hin und wieder hätte ich mich am liebsten dagegen geworfen und geschrien, als hätte ich tatsächlich Entzugserscheinungen. Es war der längste Tag meines Lebens. Mit jeder Stunde schien der Raum weiter zu schrumpfen, und irgendwann begann ich mich zu fragen, wie sehr meine Frau mich inzwischen hassen mochte. Würde sie mich aus purer Bosheit im Gefängnis sitzen lassen? Ich wusste es wirklich nicht mehr.
Schließlich kamen sie mich holen, und das Verfahren der Aufnahme lief in umgekehrter Reihenfolge ab. Ich kippte den Inhalt eines braunen Umschlags auf die Theke. Meine Uhr fiel heraus, gefolgt von meiner Brieftasche mit Geld, Kreditkarten und meinen Ausweispapieren. Alles vorhanden und registriert; ich bestätigte es mit meiner Unterschrift auf dem kleinen Blatt Papier. Sie gaben mir meine Kleidung zurück — zerknüllt. Meinen Gürtel, meine Schuhe. Als ich mich anzog, spürte ich die Verwandlung. Ich wurde wieder zu einem Menschen, und wieder ging ich durch die Gefängnistüren, diesmal hinaus in die miefige Eingangshalle, wo normale Leute auf Leute wie mich warteten. Wen erwartete ich? Barbara? Einen gesichtslosen Kautionsvermittler? In Wahrheit hatte ich darüber nicht nachgedacht — nicht, seit ich meine Unterwäsche an meiner Haut gefühlt hatte. In der wachsenden Freude über meine Wiedergeburt als Mitglied der menschlichen Rasse hatte sich meine einzige Erwartung darauf gerichtet, unter einem blauen Himmel über die Straße zu gehen, frische Luft zu atmen und etwas Anständiges zu essen. Meine Zukunft war so ungewiss, dass ich nichts weiter erwarten konnte. Hank Robins hatte ich nicht erwartet, und auch nicht das, was er mir wenig später erzählen würde.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte ich ihn.
Er grinste schief und ließ seinen abgebrochenen Vorderzahn sehen. »Das sollte ich Sie fragen.«
»Ja. Wahrscheinlich.«
Nur zwei andere Leute waren im Eingangsflur. Die eine war eine ausgelaugte Frau, die ebenso gut dreißig wie fünfzig sein konnte. Sie saß auf dem harten Plastikstuhl, den Kopf an die Wand gelehnt und mit offenem Mund; sie stank nach Zigarettenrauch und einem harten Leben — lauter Runzeln, keine Lachfalten. Ihre sonnenverbrannten Schenkel hingen schlaff unter einer abgeschnittenen Jeans, die für einen Teenager zu kurz gewesen wäre. Sie hielt ihre Handtasche wie einen Talisman
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