Der König der Lügen
Erinnerung an jene Nacht heraufwürgte wie einen blutigen Tumor, damit Mills sie begrapschen, sie wie Fingerfarbe auseinanderstreichen und bei Kaffee und Zigaretten mit anderen Cops darüber reden konnte. Mit Cops, gegen die ich tagtäglich im Gericht zu kämpfen hatte. Ich wusste, wie das funktionierte, ich kannte den perversen Voyeurismus von Leuten, die schon alles gesehen hatten und trotzdem nie genug bekamen. Ich wusste, wie sie in den Fluren hinter den Gerichtssälen über Vergewaltigungsopfer spekulierten, in Fotos wühlten und in ihrem Streben, der komischste Cop des Tages zu sein, die Menschlichkeit einer Person zerlegten. Ich hatte gehört, wie sie Witze darüber rissen, wie jemand getötet worden war: Hat es wehgetan? Glaubst du, sie hat gebettelt? Hat sie noch gelebt, als er sie gefickt hat? War sie bei Bewusstsein, als das Messer ihre blasse Haut berührte? Hat er es kommen sehen? Ich habe gehört, er hat sich in die Hose gemacht.
Es war eine düstere Farce, eine Tragödienaufführung im Angesicht des Schmerzes der Opfer in jeder Stadt des ganzen Landes. Aber diesmal war es mein Schmerz. Meine Familie. Mein Geheimnis.
Ich sah Mutter am Fuß der Treppe, ihre offenen Augen, den blutfleckigen Mund, den Hals, verdreht wie zu einem grausamen Scherz. Ich sah alles vor mir: das rote Kleid, das sie trug, die Lage ihrer Hände, den Aschenputtel-Pantoffel auf der Treppe. Die Erinnerung war grausam, und sie tat weh, aber wenn ich aufblickte, würde ich vielleicht Ezra sehen, und das wäre noch schlimmer. Dazu war ich nicht imstande. Ich konnte es nicht. Nicht noch einmal. Denn wenn ich an Ezra vorbeischaute, würde ich Jean sehen. Ich würde sehen, was dieser Abend aus ihr gemacht hatte, alles würde ich sehen, eingefroren auf ihrem Gesicht in diesem furchtbaren Tableau, das mich immer noch in meinen Träumen verfolgte. Grauen lag in ihrem Gesicht — und Zorn, eine animalische Kraft, die sie verwandelte. In diesem Gesicht sah ich eine Fremde, eine, die töten konnte, und das erschreckte mich mehr denn je. Was hatte diese Nacht aus meiner Schwester gemacht? Und war sie jetzt für immer verloren?
Wenn ich mit Mills spräche, würde das alles zurückkehren. Sie würde stochern und bohren und versuchen, mit ihrem Polizistenverstand alles ans Licht zu bringen. Vielleicht würde sie etwas sehen, und das konnte ich nicht zulassen.
»Kein Problem«, sagte ich zu dem Staatsanwalt. »Ich rede mit ihr.«
»Vergessen Sie's nicht«, sagte er.
»Keine Angst.« Ich schloss meinen Wagen auf; ich brannte darauf zu entkommen. »Danke, dass Sie sich Sorgen um mich machen.« Mein Sarkasmus war verschwendet. Ich stieg ein, aber er legte die Hand auf die Wagentür und hielt mich auf.
»Übrigens«, sagte er, »was haben Sie an dem Abend getan, als Ezra verschwand?«
Ich versuchte ihm in die Augen zu sehen. »Fragen Sie mich nach meinem Alibi?« Ich tat, als hätte er einen Witz gemacht. Er antwortete nicht, und ich lachte, aber es klang hohl. »Als Freund oder als Staatsanwalt?«
»Vielleicht in beiden Eigenschaften ein bisschen.«
»Sie sind ein komischer Vogel.«
»Machen Sie mir die Freude.«
Ich wollte weg — weg von seinen Fragen und seinen ausdruckslosen Augen. Also tat ich, was unter diesen Umständen jeder getan hätte: Ich log.
»Ich war zu Hause«, sagte ich. »Im Bett. Mit Barbara.«
Er lächelte schmal. »Das war doch nicht so schwer, oder?« , fragte er.
»Nein«, antwortete ich überrascht. »Das war überhaupt nicht schwer.«
Sein Lächeln wurde breiter, und ich sah, dass er Essensreste zwischen den Zähnen hatte, etwas Braunes. »Guter Junge«, sagte er. Es war freundlich gemeint, aber es klang herablassend. Ich versuchte zu lächeln und konnte es nicht. Ein Kopfnicken war alles, was ich zustande brachte, und selbst das tat weh. Er war sich nicht sicher, was mich betraf. Das sah ich ihm an den Augen an. Konnte ich Ezra ermordet haben? Das war eine Frage für ihn, und er würde mein Alibi überprüfen. Ich wusste auch, dass er mit Detective Mills darüber sprechen würde. Das hier war sein County, und die Medien interessierten sich für den Fall; da würde er niemals am Spielfeldrand sitzen bleiben. Also hatte er mich belogen, wie ich ihn belogen hatte, und das bedeutete eines: Unsere Freundschaft war tot, ob Douglas es so haben wollte oder nicht. Er konnte morgen jemand anderen für den Tod meines Vaters hängen lassen, aber für mich gab es kein Zurück mehr. Diese Brücke war ein rauchender Haufen
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