Der König der Lügen
mich umzudrehen. »Die Nachbarn werden dich hören.« Die Tür schlug zu, und ich glaubte zu hören, dass sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Es war mir egal. Mein Leben blieb hinter mir zurück, als ich das Grundstück verließ und den Gehweg entlangging. Ich war ein Mann wie jeder andere. Ich hatte gehandelt, hatte mich behauptet. Ich fühlte mich real, und das Gefühl war gut.
Am Rande des Vorgartens wartete ich auf den Mann, den ich schon tausendmal gesehen und nie wirklich kennengelernt hatte. Ich konnte ihn jetzt genauer sehen, als er näher kam. Er war von prachtvoller Scheußlichkeit: zerschmolzene Gesichtszüge, eine Grimasse, die seine Oberlippe über die braunen, nur auf der rechten Seite sichtbaren Schneidezähne zurückstülpte. Er trug eine verschmierte Brille mit einem dicken schwarzen Gestell, und seine Haare hingen strähnig unter der Jagdmütze herab.
»Was dagegen, wenn ich ein Stück mitgehe?«, fragte ich, als er bei mir angekommen war. Er blieb stehen, legte den Kopf schräg und sah mich an. Grüne Iris schwammen in gelben Tümpeln, und seine Stimme war die Stimme eines Rauchers. Er sprach mit starkem Akzent.
»Warum?«
Ich spürte Argwohn.
»Nur so«, sagte ich. »Bisschen plaudern.«
»Immer noch ein freies Land.« Er ging weiter, und ich blieb an seiner Seite.
»Danke.«
Ich fühlte seinen Blick auf meiner nackten Brust. »Ich bin nicht schwul«, sagte er.
»Ich auch nicht.«
Er grunzte nur.
»Und Sie wären sowieso nicht mein Typ.«
Sein bellendes Lachen endete mit einem beifälligen Schnauben. »Ein Klugscheißer, was? Wer hätte das gedacht!«
Wir gingen an den großen Häusern und am Rand des Parks entlang. Ein paar Autos waren unterwegs, ein paar Kinder fütterten die Enten. Langsam verdampfte der Morgennebel über dem Teich.
»Ich habe Sie gesehen«, sagte er schließlich. »Schon seit Jahren — wie Sie da oben auf der Veranda hocken. Muss eine verdammt gute Aussicht sein.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Ist vermutlich ein gutes Plätzchen, um die Welt vorüberziehen zu sehen.«
»Hmph. Besser ist es, selber durch die Welt zu gehen.«
Ich blieb stehen.
»Was ist los?«
»Die glasklare Erkenntnis des Offensichtlichen«, sagte ich.
»Soll heißen?«
»Soll heißen, dass Sie vermutlich ein sehr kluger Mann sind.«
»Ja«, sagte er. »Ich glaube, da haben Sie recht.« Er lachte, als er mein Gesicht sah. »Kommen Sie. Wir gehen spazieren, und Sie machen mir Komplimente. Das ist ein guter Plan.«
»Ich kenne Ihren Namen«, sagte ich, als wir den Park hinter uns gelassen hatten und auf die Main Street und die ärmliche Gegend an den Bahngleisen dahinter zugingen.
»Ach ja?«
»Habe ihn irgendwo aufgeschnappt. Maxwell Creason, richtig?«
»Nur Max.«
Ich streckte die Hand aus, und er blieb stehen, so dass ich ebenfalls Halt machen musste. Er sah mir kurz in die Augen, und dann hob er die Hände vor mein Gesicht. Die Finger waren gebrochen und zu Klauen verkrümmt, und ich sah entsetzt, dass fast alle Fingernägel ausgerissen waren.
»0 Gott«, sagte ich.
»Sie kennen meinen Namen«, sagte er. »Und nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich sage, lassen wir es dabei.«
»Wie ist denn das passiert?«
»Hören Sie, ich unterhalte mich gern mit Ihnen — es ist weiß Gott lange genug her—, doch ich glaube, ich kenne Sie nicht gut genug, um darüber zu sprechen.«
Ich starrte seine Hände an. Sie hingen wie totes Holz an den Armen.
»Aber...«, fing ich an.
»Was kümmert Sie das?«, fragte er in scharfem Ton.
»Sie interessieren mich.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich achselzuckend. »Weil Sie anders sind.« Ich spürte, wie unzulänglich meine Worte waren. »Weil ich glaube, Sie haben noch nie jemanden gefragt, womit er seinen Lebensunterhalt verdient.«
»Und das ist wichtig für Sie?«
Ich überlegte. »Ich glaube, ja.«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich will es wissen, weil Sie real sind.«
»Was soll denn das heißen?«
Ich wandte den Blick von seinem Gesicht ab, weil es plötzlich nackt aussah. »Ich habe Sie auch gesehen, wissen Sie — hier und da. Beim Gehen. Aber ich habe Sie nie mit jemandem zusammen gesehen. Ich glaube, wenn man so allein ist, muss Ehrlichkeit im Spiel sein.«
»Und die schätzen Sie?«
Ich sah ihn wieder an. »Ich beneide Sie darum.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Vielleicht, weil Sie mich nicht kennen. Weil ich auch einmal ehrlich sein und jemandem erzählen möchte,
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