Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
hat.«
»Und was ist mit den übrigen Londonern, die nicht zu diesen Familien zählen? Heißen sie Unfreie?«
Crispin lachte. »Nein, nein. Sie heißen Fremde, obwohl sie Londoner sind. Es ergibt nicht viel Sinn, aber so ist es nun einmal. Tagelöhner, die vielen Bettler, Schurken und Beutelschneider zählen dazu, aber auch die kleinen, armen Handwerker und Händler, die eben keiner Zunft angehören. Sie machen den Großteil der Bevölkerung aus.«
»Und was ist mit den echten Fremden? Den Kaufleuten aus anderen Städten oder aus Frankreich und Flandern und der Lombardei?«
»Die heißen Auswärtige. Auswärtige und Fremde sind also nicht das Gleiche, man muss sie sorgsam unterscheiden.«
Annot lachte und schüttelte die üppigen dunkelblonden Locken. »Das ist verrückt.«
Cecilia hatte auf der Bank Platz genommen und den Schatzmeister entlassen. Sie hatte Annots letzte Worte gehört. »Es ist nicht so verworren, wie es klingt, und es hat sich über Jahrhunderte bewährt. Es hat schon seine Richtigkeit, dass nur Mitglieder angesehener Familien in dieser Stadt freien Handel treiben dürfen, selbst unter ihnen gibt es weiß Gott genug schwarze Schafe. Wo kämen wir hin, wenn alle Fremden und Auswärtigen auf unsere Märkte drängten? Für uns bliebe nie genug übrig. Wir verwalten diese wunderbare Stadt und dienen ihr, somit ist es nur richtig, dass sie uns gehört.«
Annot zog ihren nassen Umhang aus, der schon zu dampfen begonnen hatte. »Das heißt also, dass ich mich niemals als Seidenhändlerin in London niederlassen könnte. Ich müsste zurück nach Canterbury gehen«, murmelte sie nachdenklich.
»Ein unverheiratetes junges Huhn wie du darf weder hier noch sonst irgendwo Handel treiben, Gott sei Dank. Als Frau eines freien Londoners stünde es dir natürlich offen. Doch am besten hättest du es nicht als Frau, sondern als Witwe eines Freien, mein Kind, glaub einer, die weiß, wovon sie redet. Darum wärst du gut beraten, dir meinen Enkel endlich aus dem Kopf zu schlagen, der ohnehin ein Herz aus Stein hat und darüberhinaus frühestens in zehn Jahren wird heiraten können. Nimm dir einen kinderlosen reichen Greis, der in absehbarer Zeit abtreten wird. Du bist schließlich hübsch genug. Nutze dein Kapital, das ist es letztlich, was wir alle tun.«
Annot war erst rot angelaufen, dann wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie war so grenzenlos verlegen, dass sie nichts zu sagen wusste.
Cecilia lachte leise. »War ich zu unverblümt? Das ist das Privileg der Alten. Aber denk über meinen Vorschlag nach. Und jetzt geh mit Crispin und sucht euch einen Platz, ihr habt hier oben an der Tafel nichts verloren.«
Mit Mühe hielt Annot den Kopf hoch, als sie an der Seite ihres treuen Begleiters zum unteren Ende der Tafel ging, wo die eingedeckten Teller und Becher wesentlich schlichter und die Kerzen in größeren Abständen aufgestellt waren.
»Es stimmt nicht«, sagte sie leise. »Er hat kein Herz aus Stein.«
Nein, dachte Crispin seufzend, vielleicht nicht. Er war nicht ganz sicher. »Aber die alte Mistress hat trotzdem Recht.«
Annot nickte unwillig. Sie wusste es ja selbst. Ihre Schwärmerei für Jonah war unvernünftig und kindisch. Es würde noch Jahre dauern, ehe die Gilde ihm gestattete, ein eigenes Geschäft zu betreiben, und dann würde er sicher eine reiche Witwe heiraten, deren Gewerbe er übernehmen konnte. Sie hatte ihm nichts zu bieten und konnte auch so lange nicht warten. Sie war vierzehn und musste zusehen, dass sie bald unter die Haube kam. Und sie wusste sehr genau, dass das der eigentliche Grund war, warum ihre Eltern sie hergeschickt hatten, und dass es diesbezüglich Absprachen mit den Hillocks gab.
Die Halle füllte sich nach und nach. Am frühen Nachmittag hatten die meisten genug von dem bunten Treiben auf den Straßen und fanden sich im Gildehaus zum Festmahl ein, das alljährlich an St. Stephen, dem Tag nach Weihnachten, für die Gildemitglieder und deren Familien ausgerichtet wurde. Für gewöhnlich gehörte die Halle allein den Männern und der Hand voll Frauen, die ein eigenes Geschäft betrieben und Einlass in dieGilde gefunden hatten – Familienangehörige hatten bei ihren Zusammenkünften keinen Platz. Doch dieser Tag war seit jeher eine Ausnahme, und alle nahmen die Gelegenheit nur zu gern wahr, Freunde wieder zu treffen, die nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnten und die man vielleicht das ganze Jahr nicht gesehen hatte. Der Advent war für die Tuchhändler immer
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