Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
eine anstrengende, arbeitsreiche Zeit. Jeder, der es sich leisten konnte, wollte für das hohe Fest ein neues Kleid, Wams, Surkot und womöglich noch einen Mantel. Von Tagesanbruch bis weit nach Sonnenuntergang waren die Läden geöffnet, Lehrjungen waren den ganzen Tag mit Handkarren oder gar Fuhrwerken unterwegs, um neue Ware zu holen und Bestellungen auszuliefern. Und bei alldem musste auch noch gefastet werden.
Diese Zeit war wieder einmal überstanden. Gestern hatten sie alle in der Kirche und daheim das hohe Fest begangen, heute war der Tag für Ausgelassenheit und manchen Schabernack. Rupert und Elizabeth kamen, als die frühe Dämmerung sich über die Straßen der Stadt legte, und wie Annot erwartet hatte, nahm ihre Meisterin sie mit von Gruppe zu Gruppe und stellte sie einer nicht enden wollenden Reihe von Menschen vor. Es war Annots Einführung in die Gesellschaft der Londoner Tuchhändler, und Elizabeth verstand es, das Beste aus der Gelegenheit zu machen. Es entging Annot nicht, dass sie vornehmlich jungen und mittelalten Männern oder deren Müttern vorgestellt wurde, und sie knickste anmutig und lächelte und hielt den Blick gesenkt und sagte nicht viel, kurzum, sie machte einen guten Eindruck. Unter gesenkten Lidern hervor fing sie viele bewundernde Blicke auf. Ein fremdes Gesicht war immer eine Attraktion, und wenn es jung und hübsch war, war das Willkommen umso herzlicher.
Von fern sah sie die alte Mistress Hillock mit einer fetten Matrone reden. Die beiden Damen sahen gelegentlich verstohlen in ihre Richtung, und Annot stellte sich vor, was sie wohl sagten. »Nein, Hiltrud, sie hat keinen Penny; außer ein paar Silberbechern und Laken ist an Mitgift nichts zu erwarten«, eröffnete Cecilia vielleicht gerade ihrer Zuhörerin. »Aber sieh dirdas Becken an. Wie geschaffen zum Kinderkriegen. Und sie kann ordentlich zupacken, und auf den Kopf gefallen ist sie auch nicht. Euer William könnte es schlechter antreffen, glaub mir …«
Bald war Annot erschöpft von ihrem starren Lächeln, den immer gleichen Floskeln und den abschätzenden Blicken, denen sie sich ausgesetzt fand. Sie entschuldigte sich und schlüpfte durch die Hintertür in den Hof hinaus. Er war größer, als sie erwartet hatte, zwei schlanke Buchen ragten in seiner Mitte auf. Im Sommer war es hier gewiss herrlich – eine Insel der Ruhe im irrwitzigen Gewimmel der Stadt. Sie lehnte sich an einen der glatten Stämme und sah zum dunkelgrauen Himmel auf. Das letzte Licht des kurzen Wintertages war fast gänzlich verblasst. Es sah nach Schnee aus. Plötzlich bekam sie Heimweh.
»Annot? Was tust du denn hier draußen in der Kälte?«
Sie fuhr zusammen, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Nichts. Gar nichts, Sir. Ich wollte nur einen Augenblick frische Luft schnappen.«
»Ja, es wird langsam stickig dort drinnen«, pflichtete Rupert ihr bei. Als er näher kam, roch sie Bier in seinem Atem.
»Und? Wie gefallen dir all die jungen Gildebrüder, he?«, fragte er neckend.
Sie hielt den Kopf gesenkt. »Alle sind sehr freundlich zu mir, Sir.«
Er lachte, und eine neue Bierwolke hüllte sie ein. »Alle sind scharf auf dich. Sie machen einen Diener und sagen dir Nettigkeiten und fragen sich dabei, wie es wohl wäre, zwischen deinen Schenkeln zu liegen.«
Ihr Kopf ruckte hoch. Es war, als hätte er sie geohrfeigt. Einen Moment fürchtete sie, der Schreck habe sie vollkommen gelähmt. Aber ihre Füße gehorchten noch. Sie wich einen Schritt zurück, wobei sie darauf achtete, sich auf die Tür zur Halle zuzubewegen, ihn nicht zwischen sich und diese Tür kommen zu lassen.
»Wie könnt Ihr so etwas zu mir sagen, Sir? Was gibt Euch das Recht, so mit mir zu reden?«
Ihr schneidender Tonfall drang zu seinem biervernebelten Verstand vor. Er blinzelte und strich sich verlegen mit der Hand über den Bart. »Entschuldige. Ich weiß kaum, was ich geredet habe. Ich hab’s nicht so gemeint. Es ist Weihnachten, da solltest du nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.«
Ihr fiel keine angemessene Erwiderung ein. Sie war grenzenlos erleichtert, dass er wieder er selbst war, aber sie traute ihm nicht, und sie fürchtete sich immer noch.
Plötzlich erhoben sich in der Halle Stimmen. »Da kommen sie! Da, Vater Gilbert und die Schauspieler! Da ist Jonah! Jonah!«
Annot sah zu dem hell erleuchteten Rechteck der geöffneten Tür. »Wenn Ihr erlaubt, würde ich gern wieder hineingehen, Sir. Mir wird kalt.«
»Natürlich. Ich begleite dich.«
Er
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