Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
neugierig. »Wie energisch du bist. Hast du jüngere Geschwister, die du herumkommandieren konntest?«
»O ja.« Sie lächelte. »Vier Brüder und zwei Schwestern. Ich bin die Älteste.«
»Bedauernswert. Sicher musstest du immerzu schuften.«
»Ja. Aber sie fehlen mir trotzdem.«
»Warum bist du hergekommen?«
Sie hob kurz die Schultern. »Mein Vater wollte es so. Er hat einen Vetter, der Wollhändler in Canterbury ist, und der kannte Master Rupert.«
Jonah nickte wortlos.
Annot erhob sich und strich ihren Rock glatt. »Ich muss gehen. Brauchst du noch irgendetwas? Soll ich Helen sagen, dass sie dir noch einen Kamillensud kocht?«
»Untersteh dich.«
Mit einem glockenhellen Lachen schlüpfte sie zur Tür hinaus, und Jonah fühlte sich verlassen, als sie fort war. Seufzend schlug er die Decke zurück, stand auf und schritt ein paar Mal auf und ab. Es ging, aber es ging nicht besonders gut. Nach einem guten Dutzend Schritten brach ihm der Schweiß aus, und sein Kopf begann zu hämmern. Er legte sich eilig wieder hin, wartete eine halbe Stunde und versuchte es noch einmal.
Drei Tage später nahm Jonah seine Arbeit wieder auf. Rupert bemerkte wohl, wie bleich und dürr sein junger Vetter noch war, doch er erhob keine Einwände. Erst als er ihn entbehren musste, hatte er erkannt, welch großen Teil der täglichen Arbeit sein älterer Lehrling ihm inzwischen abnahm, wie selbstverständlich und eigenständig er all die Dinge erledigte, die man Crispin immer noch erklären musste.
Als Rupert nach dem Frühstück in den Laden hinunterkamund Jonah dort im Lager vorfand, sagte er daher nur: »Ah, das trifft sich gut. Geh nach West Smithfield zu Berger und frag, wo das blaue Tuch bleibt. Seine günstigen Preise nützen mir nichts, wenn er nicht pünktlich liefert. Der Gemüsehändler Walfield ist gestorben und verfügt in seinem Testament, fünfzig Yards einfaches Tuch an die Bettler von St. Bartholomew zu verteilen. Sein Sohn will die Wolle bei uns kaufen, aber wir brauchen sie schnell.«
Jonah nickte. »Wenn Berger sie nicht hat, gehe ich zu seinem Schwager. Für einen Shilling Provision pro Ballen treibt er das Tuch für uns auf.«
Manchmal hatte Rupert den Verdacht, dass Jonah die verworrenen Verhältnisse bei den Walkern und Färbern inzwischen besser durchschaute als er selbst. Seine Dankbarkeit machte ihn großzügig. Er schnürte den bestickten Beutel an seinem Gürtel auf und zählte zusätzlich zu der vereinbarten Summe für das Tuch sechs Pennys – einen halben Shilling – ab. »Miete dir einen Maultierkarren, um das Zeug herzuschaffen. Die Straßen sind schlammig. Zu anstrengend mit dem Handkarren. Und nimm dir Crispin mit.«
Jonah fiel aus allen Wolken, nickte aber lediglich und nahm das Geld. Mit einem Wink bedeutete er Crispin, ihm zu folgen. Sie nahmen ihre Mäntel und Kapuzen von den Haken hinter der Ladentür und traten auf die Straße hinaus.
Erst als die Tür sich hinter ihnen schloss, erkannte Annot, dass sie allein mit Rupert im Laden war.
Sie erhob sich eilig von ihrem Schemel im Lager und trat an die Tür zum Hof. Doch die Tür war abgesperrt. Bis zu diesem Tag war Annot nie aufgefallen, dass sie überhaupt ein Schloss hatte.
Hinter ihr erklang ein leises Klimpern, und sie fuhr herum.
Rupert stand nur einen halben Schritt von ihr entfernt, hielt lächelnd seinen Schlüsselring hoch und ließ die großen und kleinen Eisenschlüssel vor ihrer Nase baumeln.
»Die Ladentür hab ich auch abgesperrt«, eröffnete er ihr. »Wir wollen ja nicht, dass uns jemand stört, wo es mich schonSixpence gekostet hat, damit wir endlich einmal allein sein können.«
Annot spürte ihre Kehle eng werden und hörte, wie ihr Atem sich beschleunigte. Bleib ganz ruhig, schärfte sie sich ein. Sie wusste nicht erst seit dem Zwischenfall am Tag nach Weihnachten, was Master Rupert von ihr wollte. Bislang war es ihr immer gelungen, ihm auszuweichen und aus dem Weg zu gehen. Es war die einzige Möglichkeit, sich zu schützen, die ihr eingefallen war, denn es gab niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen, den sie um Hilfe hätte bitten können. Ihre Meisterin verschloss lieber die Augen vor unangenehmen Wahrheiten; sie hätte niemals geglaubt, dass ihr Rupert nach anderen Röcken schielte. Annot hätte nur erreicht, sie zu verärgern. Eine Zeit lang hatte sie erwogen, sich an die alte Mistress zu wenden, denn vor seiner Großmutter hatte Rupert Respekt, aber sie hatte es schließlich doch nicht gewagt. Die
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