Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
alte Dame schien ihr immer so unnahbar, so erhaben und streng. Ganz anders als Annots eigene Großmutter in Canterbury, die für jedes Kümmernis ein offenes Ohr hatte. Hier in London hatte Annot sonst niemanden. Und selbst in ihrem Kopf klangen ihre Vorwürfe unglaubwürdig und hysterisch. Rupert Hillock war ein so angesehener, frommer Mann. Und genau das, so wusste sie, war ihre einzige Hoffnung. Doch um an seinen Anstand zu appellieren, musste sie die Ruhe bewahren.
Sie senkte den Kopf. »Bitte lasst mich hinaus, Sir. Die Meisterin wartet auf mich. Sie hat mich geschickt, ihr dieses Muster blauer Rohseide zu bringen, sie will es sich ansehen.«
Rupert fiel nicht darauf herein. »Elizabeth hat seit Wochen nicht an ihre Seide gedacht. All ihre Gedanken drehen sich ums Brüten. Und sie wartet nicht auf dich, sondern auf die Hebamme – den einzigen Menschen, von dem sie sich noch anfassen lässt. Nein, mein Kind, niemand wird dich und mich vermissen. Wir sind ganz ungestört.«
»Ich würde trotzdem gerne gehen und nach ihr sehen.«
Rupert legte die Hand um ihren Oberarm, beinah zaghaft. Doch als Annot zurückwich, packte er fester zu und zog sie miteinem Ruck näher. Seine Rechte strich über ihren Hals abwärts und umschloss ihre Brust. Er kniff die Augen zu, sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt. »Oh, Annot. Wenn du wüsstest … wenn du wüsstest.« Plötzlich presste er seine Lippen auf ihre und zwang seine Zunge in ihren Mund.
Es fühlte sich an, als habe sie einen fetten, glitschigen Wurm im Mund. Annots Hände ballten sich zu Fäusten, sie riss den Kopf zur Seite und bog ihren Körper zurück. »Sir, lasst mich los. Das dürft Ihr nicht tun. Mein Vater hat mich in Eure Obhut gegeben, vergesst das nicht.«
Ruperts Pranke knetete die Brust unter ihrem Kleid, und Annot biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Sie glaubte, er habe sie gar nicht gehört, doch dann murmelte er: »Dein Vater hat mir drei Pfund bezahlt, damit ich dich in mein Haus nehme und er dich los ist. Was ich mit dir tue, war ihm völlig gleich.«
Annots Faust öffnete sich wie von selbst, und sie schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. »Das ist nicht wahr! Mein Vater dachte, Ihr wäret ein Ehrenmann.«
Rupert hielt sich einen Moment betreten die Wange und starrte sie an. Annot riss sich von ihm los und trat einen Schritt zurück. Beinah hoffte sie schon, sie hätte ihn zur Besinnung gebracht. Aber dann stahl sich ein siegesgewisses, boshaftes Lächeln auf sein Gesicht, und alles war verloren. Sie dachte später oft über diesen Moment nach und konnte nie begreifen, was passiert war, denn sie wusste nicht, welche Wirkung das wütende Funkeln in ihren Augen, die feine Röte auf ihren frischen, zarten Wangen auf ihn ausgeübt hatte, was es in ihm weckte. Er packte sie bei den Haaren und zerrte sie auf den Holzboden hinab. Annot schrie.
»Noch ein Laut und ich zerreiß dir das Kleid«, keuchte Rupert, streifte ihre Röcke hoch und zwang sein Knie zwischen ihre Beine. »Dann weiß es die ganze Welt. Jonah wird es wissen.«
Annot hörte auf, sich zu wehren. Sie hielt still, und als Rupert keuchend, schwitzend und mühevoll in sie eindrang, presste sie den Handballen vor den Mund und biss hinein.Es hatte geschneit. An den Straßenrändern war der Schnee zu langen Wällen aufgeschippt worden, auf denen Crispin entlangbalancierte, sodass sie nur langsam vorankamen. Die Fahrspuren für die zahllosen Gefährte waren frei. Das Dreikönigsfest, der letzte der Weihnachtsfeiertage, lag zwei Wochen zurück, und die Menschen der großen Stadt gingen wieder geschäftig ihrer Arbeit nach. In der Schmiede neben Robertsons Mietstall sang ein Hammer. Dampf stieg aus den Töpfen der zahllosen Straßenküchen auf, wo Eintopf, Brot- oder Biersuppe feilgeboten wurden. Die Ladentüren waren jetzt in der kalten Jahreszeit alle verschlossen, aber sie wussten, dass dahinter Töpfer, Schuhmacher, Schneider oder Kopisten bei der Arbeit waren. Mägde, Hausfrauen und Lehrlingsburschen wie sie bevölkerten die Straßen, erledigten Botengänge und Einkäufe, blieben trotz der Kälte einen Moment stehen, um ein Schwätzchen zu halten. Ochsenkarren und Pferdefuhrwerke mit allen nur erdenklichen Ladungen verstopften die schmalen Straßen. Ein paar vereinzelte, dicke Flocken segelten lautlos vom grauen Himmel herab.
Crispin breitete die Arme aus, streckte die Zunge heraus und fing eine auf. »Ist es nicht herrlich?«, rief er seelenvoll aus.
Sie überquerten
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