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Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)

Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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den Standard, die Richtstätte von Cheapside, wo ein Bäcker am Pranger stand, der, so erklärte das Schild über seinem Kopf, die Gewichte seiner Waage gefälscht und den Leuten zu kleine Brotlaibe verkauft hatte. Die besagten, mickrigen Brotlaibe lagen in einem traurigen, durchnässten Häuflein zu seinen Füßen. Ein offenbar betrunkener Tagelöhner stand schwankend davor, versuchte, auf die Brote zu pinkeln, und traf stattdessen den Bäcker. Der Bäcker heulte.
    »Herrlich«, stimmte Jonah trocken zu.
    Crispin warf einen flüchtigen Blick auf die jammervolle Szene und tat sie mit einem Achselzucken ab. »Ein Betrüger«, sagte er verächtlich. »Was willst du? Dass er immer weiter damit durchkommt?«
    »Nein. Er hat alles verdient, was er bekommt.« Zumal der Bäcker beim ersten Mal sicher mit einer Geldbuße davongekommenwar. Am Pranger landeten meist nur Wiederholungstäter. Jonah sah eine Horde Bäckerlehrlinge näher kommen, denen der pure Mutwillen ins Gesicht geschrieben stand. Sie hatten offenbar beschlossen, diesem Schandfleck ihrer Zunft die Zeit zu vertreiben. »Aber wir müssen nicht zusehen, oder?«
    »Nein«, stimmte Crispin zu. »Lass uns lieber einen Schritt zulegen. Master Hillock wäre sicher nicht sehr glücklich, wenn ihm diese große Bestellung entgeht.«
    Als sie den Richtplatz hinter sich ließen, hörten sie einen erbarmungswürdigen Schrei, aber sie sahen nicht zurück. In dieser Stadt gab es so viele Halunken, Scharlatane und Fälscher, dass man jeden Tag irgendwo irgendwen am Pranger sehen konnte, und für einen Bäcker, der anständige, schwer arbeitende Londoner um ihr sauer verdientes Brot betrog, hatten sie nicht einen Funken Mitgefühl.
    Sie stießen auf die breite Candlewick Street und wandten sich nach links. Auf dieser Hauptstraße war der Verkehr dichter. Die meisten Fußgänger drängten sich nah an die Häuser, um nicht unter die Räder zu kommen. Der Mayor erließ in regelmäßigen Abständen Verfügungen, die es den Kutschern unter Androhung hoher Geldbußen und gar Kerkerhaft verboten, mit unbeladenen Fuhrwerken schneller zu fahren als beladen, aber niemand scherte sich darum.
    »Was ist mit meiner Großmutter?«, fragte Jonah nach einem längeren Schweigen.
    Crispin sprang geschickt beiseite und verhinderte so, einem königlichen Boten unter die Hufe zu geraten, der wie besessen Richtung Tower ritt und unbarmherzig auf seinen schwitzenden Gaul eindrosch. Vermutlich kam er aus Westminster.
    »Es geht ihr besser«, antwortete er. »Heute Morgen war sie beim Frühstück. Im Gegensatz zu dir, fällt mir ein. Hast du keinen Hunger? Sieh mal, da vorn.« Er wies auf einen kleinen Stand, wo eine alte Frau Bratäpfel mit Zimt feilbot. Jonah nickte, ging zu ihr hinüber, erstand zwei für einen Farthing und reichte Crispin einen.
    »Sehr großmütig«, lobte der Jüngere, biss genüsslich ab undgab undeutliche Protestlaute von sich, weil er sich die Zunge verbrannt hatte.
    Jonah war vorsichtiger und blies auf die glänzende, verführerisch duftende Frucht, ehe er hineinbiss. Erst jetzt bemerkte er, wie ausgehungert er war. Er widmete sich dem Apfel mit Hingabe, hielt freilich ein Auge immer auf den Weg gerichtet und wich Pferdeäpfeln, toten Ratten und allen möglichen anderen Abfällen aus, über deren Ursprung er lieber nichts Genaueres wissen wollte.
    »Und Elizabeth?«, fragte er weiter.
    Crispin seufzte tief. »Neulich war sie plötzlich nachmittags verschwunden. Das war noch während der Feiertage. Annot hat mir erzählt, sie sei zur Hebamme gegangen. Und es stimmt, sie ist tatsächlich guter Hoffnung. Die Hebamme hat gesagt, sie soll so viel wie möglich liegen, damit das Kind Ruhe hat. Und sie soll viel Honig essen, damit es gedeiht. Und nicht bei Abenddämmerung auf die Straße gehen, um schädliche Dämpfe zu meiden, und nie gegen die Sonne gehen, damit es nicht verflucht wird, und eine Wolfspfote unter dem Herzen tragen, damit es ein Junge wird.«
    Jonah nickte. Er war überzeugt, Elizabeth tat alles, was die Hebamme empfohlen hatte. Er hatte die Meisterin nie sonderlich gemocht, und vom ersten Tag an, da er als Lehrling in das Haus seines Vetters zurückgekehrt war, hatte sie nichts unversucht gelassen, um ihm das Leben schwer zu machen. Seit vier Jahren lebten sie unter einem Dach und waren doch Fremde, sie hatten im Grunde noch niemals ein persönliches Wort gewechselt. Aber es brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um zu ahnen, wie verzweifelt sie war. In sechs

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