Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
Allein Gott steht es zu, über sie zu urteilen. Hier und jetzt jedenfalls hat er sie über dich gestellt, und danach hast du dich zu richten. ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‹, hat Christus gesagt. Der Kaiser war ein Tyrann und ein Ungläubiger, aber trotzdem hat der Herr es gesagt. Denn es ist die von Gott gewollte Ordnung der Welt, dass die einen herrschen und die anderen gehorchen. Alles andere wäre Chaos, und über das Chaos herrscht Satan.«
Jonah dachte darüber nach.
»Du weißt, dass ich Recht habe, nicht wahr?«, fragte der Priester nach einer Weile.
Der junge Mann nickte zögernd. »Aber es ist so … schwer. Wieso kann Gott nicht jemanden über mich stellen, den zu respektieren ein bisschen leichter wäre?«
»Vielleicht wird er es tun, wenn du dich würdig erweist.«
Oder auch nicht, dachte Jonah und unterdrückte ein höhnisches Lachen.
»Wirst du zu deiner Großmutter gehen?«, fragte Vater Gilbert.
»Ich kann nicht.« Er hob ratlos die Hände. »Ich habe geschworen, nie mehr mit ihr zu sprechen.«
»Das wird gar nicht nötig sein. Sie will dich nur noch einmal sehen, das ist alles.«
Helen war bei Cecilia. Als sie die Tür hörte, sah sie auf. »Gott sei Dank, Jonah.« Sie lächelte voller Erleichterung. »Ich lasse euch allein.«
Fast hätte er widersprochen. Ihm graute davor, allein mit seiner Großmutter zu sein. Aber er wusste, dass Helen ihn sofort durchschaut und einen Feigling genannt hätte, also sagte er nichts.
Lautlos schlüpfte die Magd hinaus. Jonah stand einen Augenblick verloren in der Raummitte und starrte auf den leeren Sessel, in dem die alte Dame so oft gesessen hatte. Es war eigentümlich schmerzlich, ihn so verwaist zu sehen. Dieser Sessel schien alles zu symbolisieren, was seine Großmutter ihm einmal bedeutet hatte. Wie oft hatte er bei ihr Rat gesucht und auch gefunden. Und welch eine verlässliche Komplizin bei allen Unternehmungen sie gewesen war, mit denen er Rupert ein Schnippchen schlug. Ihre Zuneigung, ging ihm jetzt auf, war die einzige Geborgenheit, die er je gekannt hatte. Nun, er hatte festgestellt, dass er auch ohne sie auskam, er war schließlich alt genug.
Entschlossen trat er an das breite Bett, schob den schweren Vorhang ein wenig zurück und sah auf die kranke alte Frau hinab. Seit etwa vier Wochen hütete Cecilia das Bett, und seither hatte er sie nicht mehr gesehen. Er hätte nie für möglich gehalten, dass ein Mensch in so kurzer Zeit so vollkommen verfallen konnte. Was alle seit Tagen sagten, wurde plötzlich Gewissheit: Cecilia lag im Sterben.
Ihr Gesicht war geschrumpft wie ein Winterapfel, die Haut wirkte wächsern. Ihr Haar, das er heute zum ersten Mal im Leben sah, war wirr und dünn und spärlich, die Stirn völlig kahl. Die dunklen Augen waren trüb, blickten ihn aber unverwandt an.
Ihre bleichen, aufgesprungenen Lippen bewegten sich. »Du bist ein sturer Bastard wie dein Großvater.«
Er nickte.
»Komm her. Knie dich hin. Nimm meinen Segen, das ist mein letzter Wunsch.«
Ohne zu zögern kniete er vor dem Bett nieder. Sie hob die schneeweiße, runzelige Hand und legte sie auf seinen Kopf. Dann glitt die Hand zurück auf das Laken.
Ihr Atem ging schwer. »Ich habe mich wirklich bemüht zu bereuen, was ich getan habe, aber es geht nicht.«
Er legte seine Hand auf ihre, einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Vergibst du mir trotzdem?«, fragte sie.
Jonah sah ihr in die Augen, rang einen Moment mit sich und nickte dann. Es war gelogen. Er konnte ihr nicht verzeihen. Großmut, so wusste er, gehörte nicht zu seinen Stärken. Aber er empfand Mitgefühl, und jetzt, da ihm klar geworden war, wie nahe sie dem Tod war, wollte er, dass sie Frieden fand.
Cecilia lächelte. »Das ist dein Glück, mein Junge«, flüsterte sie, es war beinah ein Röcheln. »Unter meinem Kopfkissen liegt ein Ring. Bring ihn Vater Gilbert. Er weiß dann, was er zu tun hat.«
Er starrte sie angstvoll an und fragte sich, in welch eine Falle er ihr nun wieder gegangen war. Aber er hielt ihre Hand weiterhin fest und blieb bei ihr, bis die Lider sich langsam über die trüben Augen senkten. Sie war eingeschlafen. Die Abstände zwischen den mühsamen Atemzügen wurden länger. Jonah kniete reglos am Boden und lauschte. Mit einem langen Seufzer atmete sie schließlich aus, und dann trat Stille ein.
Epping Forest, Juli 1331
E s war sein zweiter Tag im Sattel, und langsam fand Jonah Gefallen daran. Er hatte bislang selten Gelegenheit
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