Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
seufzend erwidert.
»Da wäre ich nicht so sicher. Die entscheidende Frage ist vielleicht nur, was dir Ruperts Einwilligung wert ist. Du bist ein wohlhabender Mann, Jonah. Und dein Vetter hat Schulden.«
Jonah war nicht sonderlich überrascht. Er hatte schon lange gewusst, dass Rupert kein sehr geschickter Kaufmann war.
»Was wäre geschehen, wenn ich Euch den Ring nicht gebracht hätte?«, fragte er neugierig. »Für diesen Fall gab es doch ein zweites Testament, nicht wahr? Hätte Rupert alles bekommen?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»St. Jane’s. Ein Nonnenkloster drüben in The Stews.«
»Ein Kloster? Im Hurenviertel … oh, Verzeihung, Vater.«
Vater Gilbert nickte mit einem nachsichtigen Lächeln. »Die Schwestern von St. Jane’s erweisen ihre Barmherzigkeit im besonderen Maße ledigen Müttern.«
Jonah hatte sich tatsächlich dazu durchgerungen, mit seinem Vetter zu reden und ihn um eine vorzeitige Auflösung des Lehrvertrages zu ersuchen. Es war ihm furchtbar schwer gefallen, in die Rolle des Bittstellers zu schlüpfen, doch er sagte sich, wenn dies der Preis für seine Freiheit sei, müsse er ihn eben zahlen. Rupert hatte es ihm nicht einmal so schwer gemacht, wie Jonah befürchtet hatte. Aber er wich einer Entscheidung aus und hatte ihn angewiesen, erst einmal für ihn nach Norwich zum Wollmarkt zu reiten. Dort solle er in Ruperts Namen die anstehenden Geschäfte abwickeln, und dann werde man ja sehen, ob er schon genug Erfahrung habe, um auf eigenen Füßen zu stehen. Jonah kam dieser Auftrag gerade recht. Außer RupertsGeld hatte er auch seine Barschaft aus dem Versteck unter den Holzdielen mitgenommen, um die ersten Geschäfte auf eigene Rechnung zu tätigen. Für sieben Pfund bekam man eine Menge Rohwolle. Er hatte die Absicht, nur beste Qualität zu kaufen, die Wolle irgendwo auf dem Land preiswert spinnen zu lassen und zum Weben, Walken und Färben nach Flandern zu verschiffen.
Dieser Wald wollte einfach kein Ende nehmen, musste er feststellen. Kaum hatte er gestern die Stadt hinter sich gelassen, waren die Felder zurückgeblieben, und die vereinzelten Gehölze verdichteten sich zu einem weitläufigen Forst. Doch selbst für einen so unerfahrenen Reisenden wie Jonah war der Weg nicht schwer zu finden: Er musste einfach nur der königlichen Straße folgen, die eine fast schnurgerade Schneise durch die Bäume zog und die schon in den Tagen des römischen Britanniens London mit Norwich verbunden hatte. Sie war einigermaßen breit; tiefe Furchen sprachen von den zahllosen Fuhrwerken, die sie ständig benutzten, selbst wenn an diesem brütend heißen Julitag bemerkenswert wenig Betrieb war. Vor etwa einer Stunde war ihm eine Pilgerschar entgegengekommen, seither hatte er niemanden gesehen. Das war Jonah nur recht. Ihn verlangte nicht nach Gesellschaft. Vielmehr war er dankbar, dass er nach diesen verrückten Tagen, da die Ereignisse sich in einem fort überstürzt hatten, endlich einmal Ruhe fand, um nachzudenken und wieder zu Verstand zu kommen. Und er genoss die ungewohnten Geräusche und Gerüche dieses Waldes. Die alten Bäume links und rechts der Straße hatten ausladende Kronen, die ihm Schatten spendeten. Ein Heer unterschiedlicher Vögel hockte in den Zweigen und jubilierte. Jonah sah Spatzen, Amseln und Tauben, aber auch etliche andere, deren Namen er nicht kannte. Die Sommerhitze und der aufgewirbelte Straßenstaub hatten das Laub mit einer graugelben Schicht bedeckt, die herabhängenden Blätter wirkten matt. Doch das Grün der Farne war noch frisch, und manchmal sah er wahre Teppiche von Glockenblumen. Er genoss die Stille und die Wärme und die würzige Waldluft.
Zum ersten Mal in seinem Leben fand Jonah sich ganz auf sich allein gestellt, und es war eine Offenbarung, zu entdecken, wie gut es ihm gefiel, wie befreit und selbstsicher er sich fühlte. Er würde gute Geschäfte machen in Norwich. Er würde Rupert und die Gilde überzeugen, dass er alles wusste und konnte, was es brauchte, um auf eigenen Füßen zu stehen. Er wäre der jüngste Kaufmann in der Geschichte der Gilde, hatte Vater Gilbert ihm zu verstehen gegeben, aber das schreckte Jonah nicht. Mit einigem Erstaunen erkannte er, dass es Zuversicht war, die er verspürte, eine ganz und gar fremde Empfindung für ihn, der er doch sonst immer mit dem Schlimmsten rechnete, um nicht gar zu bitter enttäuscht zu werden.
Verblüfft lächelte er vor sich hin. Alles war möglich, erkannte er. Vielleicht konnte er sogar Annot
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