Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
Vater zu gehen und ihn zu bitten, den Lehrvertrag mit Rupert aufzukündigen und ihn anderswo unterzubringen. Aber noch zögerte er. Er hatte gelernt, dass ein Lehrjunge seinem Meister Loyalität schuldete, und es schien ihm nicht anständig, die Hillocks in ihrer Not im Stich zu lassen, und mochten sie auch selbst an allem schuld sein. »Wenn ich heute Nachmittag die Ware austrage, gehe ich bei Vater Gilbert vorbei und bitte ihn her«, versprach er leise. »Vielleicht kann er ihnen ein bisschen Vernunft beibringen.«
Helens besorgte Miene hellte sich auf. »Tu das. Wenn Jonah auf irgendwen hört, dann auf ihn.«
Der Seelsorger der Tuchhändlergilde kam, als der Haushalt beim Abendessen saß. Die Mägde und Crispin sahen hoffnungsvoll auf, als sie das Klopfen an der Tür unten vernahmen. Und wär’s der Teufel selbst, dachte Helen, jeder Gast, der dieses eisige Schweigen bricht, ist mir willkommen.
Auf ein Nicken von Elizabeth lief sie hinunter und öffnete.
»Oh, Vater, Ihr seid es. Gott sei gepriesen.«
Er nickte ihr ernst zu und trat ein. »Ich denke, als Erstes sollte ich die alte Dame besuchen. Vielleicht ist sie heute so weit, endlich ihren Frieden mit Gott zu schließen.«
»Ich glaube, niemand in diesem Haus ist bereit, mit irgendwem Frieden zu schließen«, entgegnete die Magd unverblümt.
»Halsstarrigkeit ist die große Schwäche aller Hillocks«, bemerkte er. »Ein vorlautes Mundwerk die deine.«
Helen hatte eine passende Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber lieber hinunter und sagte lediglich: »Ich geleite Euch hinauf, Vater.«
Gilbert blieb über eine Stunde bei Cecilia, sprach anschließendmit Elizabeth und Rupert und ging zuletzt zu Jonah. Er fand den jungen Mann im Hof, wo er im letzten Licht des warmen Frühsommertages am Brunnen saß.
Jonah hatte ein Knie angezogen und die langen Finger darum verschränkt. Mit zurückgelegtem Kopf schaute er zum ewig diesigen Londoner Himmel auf.
»Suchst du den Abendstern?«, erkundigte sich der Priester, während er näher trat.
Jonah sprang auf die Füße. »Guten Abend, Vater. Nein. Man kann ihn um diese Jahreszeit von hier aus nicht sehen.«
Manchmal stellte er sich vor, wie es wohl wäre, irgendwo auf dem Land zu leben. In einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kannte, oder gar auf einem Gut, umgeben von Feldern und Wiesen und sauberer Luft.
Gilbert setzte sich auf den Brunnenrand, faltete die Hände im Schoß und betrachtete den jungen Kaufmannslehrling in der schlichten, aber immer so peinlich sauberen Kleidung, das glatt rasierte Kinn, die ordentlich gekämmten Haare.
»Ich kenne wahrlich keinen anderen Mann, der immer so tadellos aussieht wie du und gleichzeitig so vollkommen uneitel ist. Ich habe mich schon oft darüber gewundert«, sagte der Priester versonnen.
Jonah schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich bin eitel.«
Der Pater zog die Brauen hoch. »Und heute ungewöhnlich freimütig, scheint mir. Worin erkennst du deine Eitelkeit?«
»Wenn ich schlecht angezogen bin – wenn Elizabeth mich etwa zwingt, Ruperts fadenscheinige Wämser aufzutragen, in die zwei von meiner Sorte hineinpassen –, fühle ich mich unwohl.«
»Wieso?«
»Ich bin Tuchhändler. Wer soll auf meinen Geschmack und die Qualität meiner Ware vertrauen, wenn ich wie ein Hungerleider daherkomme?«
Vater Gilbert lächelte. »Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Was sagt Elizabeth dazu?«
»Dass ich es an Respekt mangeln lasse.«
Der Priester wurde plötzlich ernst. »Womit sie nicht ganz Unrecht hat, nicht wahr?«
Jonah senkte den Kopf und antwortete nicht gleich. Schließlich sagte er leise: »Ich weiß, Ihr wollt mich überreden, zu meiner Großmutter zu gehen. Aber das kann ich nicht.«
»Doch, Jonah. Das musst du.«
»Wenn Ihr wüsstet, was sie getan hat …«
»Ich weiß es. Sie hat gebeichtet und mir alles erzählt. Und es stimmt, was sie und Rupert getan haben, war abscheulich. Aber das spielt in dieser Frage keine Rolle. Sie ist deine Großmutter, sie liegt im Sterben, und sie verlangt nach dir, also musst du zu ihr gehen. Es ist tatsächlich eine Frage von Respekt. Du bist ihn ihr schuldig. Und Rupert ebenso, denn er ist dein älterer Verwandter und dein Meister. So lauten die Regeln. Für wen hältst du dich, dass du glaubst, sie gelten nicht für dich?«
»Aber wieso schulde ich ihnen Respekt, wenn sie ihn nicht verdienen?«, fragte Jonah mit mühsam unterdrückter Heftigkeit.
»Das zu entscheiden ist nicht deine Sache.
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