Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
Trümmer, legten erst einen Unterarm frei, dann eine Schulter. Jonah kletterte mehrmals gefährlich weit auf die Wrackteile hinauf, die jedes Mal ins Schlittern gerieten, aber nur so konnte er verhindern, dass Holzteile von oben herabrutschten oder -fielen und ihre Ausgrabung wieder bedeckten.
Der Arm war glücklicherweise nicht abgetrennt. Nach und nach befreiten sie den ganzen Körper aus dem Holz. Es war eine junge Frau, die dem Mädchen auffällig ähnlich sah. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht blutbesudelt, aber man konnte sehen, dass sie atmete.
»Deine Schwester lebt«, bemerkte er.
Sie nickte, starrte noch einen Moment auf die reglose Gestalt hinab und blickte dann mit einem traurigen kleinen Lächeln zu ihr auf. »Danke, Sir. Sagt Ihr mir Euren Namen?«
»Jonah Durham.« Er verneigte sich knapp. »Und der deine?«
»Giselle de la Pole. Ich bin elf«, fügte sie unaufgefordert hinzu.
Jonah nickte langsam. Martin Greene hatte ihm gelegentlich von dem berüchtigten, steinreichen Kaufmann William de la Pole erzählt, der den gesamten Wollhandel Nordenglands kontrollierte und beste Kontakte zum Hof unterhielt. Wenn dieses Mädchen und seine ältere Schwester zum Gefolge der Königin zählten, konnten es nur seine Töchter sein, ging ihm auf. »Wir sollten schnell einen Arzt für deine Schwester finden«, riet er.
Giselle sah sich suchend um, dann lächelte sie befreit. »Die Königin! Sie weiß sicher, wie wir einen Arzt bekommen.«
Sie eilte davon, und Jonah kniete sich neben die Bewusstlose, nahm zaghaft ihre blutende, kühle Hand und rieb sie zwischen seinen.
Kurz darauf trat der junge Gervais of Waringham zu ihm. »Die Königin hat mich gebeten, Lady Elena in den Tower zu bringen. Dort wird sich der Leibarzt des Königs ihrer und der anderen Verletzten annehmen.«
Jonah stand auf und nickte. »Gibt es viele Tote?«
Waringham seufzte. »Ich weiß es nicht. Was für eine furchtbare Geschichte, Jonah.«
Der junge Kaufmann war verwundert, dass Waringham sich an seinen Namen erinnerte. Er zog das Diadem aus den Falten seines Gewandes und reichte es ihm. »Würdet Ihr es der Königin zurückgeben? Ich sollte wohl sehen, was aus meinen Freunden geworden ist.«
Waringham schüttelte den Kopf. »Gebt es ihr selbst. Der König hat mich angewiesen, Euch zu bitten, ebenfalls mit in den Tower zu kommen. Und wo wir schon denselben Weg haben, könntet Ihr hier gleich mit anfassen.«
Behutsam hoben sie die Bewusstlose auf Waringhams Pferd. Der junge Ritter saß hinter ihr auf, stützte ihren Oberkörper und sah besorgt in ihr bleiches Gesicht. »Arme Elena. Ich hab immer gesagt, sie ist eine dumme Gans, aber ich hoffe, sie wird wieder gesund.« Er nickte Jonah zu. »Kommt zum Tower, so schnell Ihr könnt. Heute ist es besser, man lässt den König nicht warten.«
»Was wird mit den Zimmerleuten geschehen?«, fragte Jonah.
»Vermutlich wird es eng werden um ihre Kehle«, antwortete Waringham und schnalzte seinem Pferd aufmunternd zu. »Ich möchte jedenfalls nicht mit ihnen tauschen.«
Jonah war noch nie im Leben im Tower gewesen. Natürlich war er schon häufig an der dicken, unüberwindlich hohen Mauer vorbeigekommen, hatte auch mal einen Blick über die Zugbrücke riskiert, aber zu seiner Erleichterung nie mehr als den kleinen Vorhof zwischen der Außenmauer und dem Torhaus der inneren Mauer gesehen.
Der Tower of London gehörte dem König, war seine Londoner Residenz, in der sich jedoch kein König je häufiger als zwingend erforderlich aufgehalten hatte, denn der Tower war alt, düster und zugig und bot bei weitem nicht so viel Bequemlichkeit wie etwa der Palast im nahen Westminster oder andere königliche Besitzungen in der unmittelbaren Umgebung der Stadt. Trotzdem wurden die Gebäude im Innern der Festungsanlage ständig erweitert, um Platz für immer mehr Regierungsabteilungen oder größere Kontingente von Soldaten zu schaffen. In den Vorstellungen der Londoner symbolisierte die alte Burg die Macht des Königs und seiner Vasallen und hatte mit dem Leben der einfachen Leute nichts zu tun. Nicht einmal die Londoner Übeltäter wurden dort eingesperrt, sondern nur Verräter oder sonstige Spitzbuben von hoher Geburt. Somit war es ein unbekannter Ort, von dem die grausigsten Geschichten erzählt wurden, und Jonah fühlte sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut, als er zögernd den Fuß auf die Brücke setzte. Seine Schritte schienen immer langsamer und zögerlicher zu werden.Nicht nur
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