Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
reden«, riet er dem Jungen. »Ich bin sicher, er kann dir eine andere Lehrstelle besorgen.«
Crispin verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn unschlüssig an. »Ja, Jonah, aber wenn ich gehe, dann ist Hillock am Ende. Die Kunden, die noch kommen, kommen zu mir.«
»Es ist nicht deine Aufgabe, sein Geschäft zu retten. Du hast alles getan, was du ihm schuldig warst, und mehr obendrein.«
»Ich weiß nicht …«, murmelte der Junge unentschlossen.
»Wenn du bei ihm bleibst, gehst du vor die Hunde und … O mein Gott.« Jonah packte Crispin am Arm und zerrte ihn einen Schritt zurück.
»Was ist denn?«, fragte der Junge irritiert.
Es war keine Einbildung gewesen. Die Tribüne wankte auf ihren spinnenhaft dünnen Beinen, aber niemand außer Jonah schien es zu bemerken. Das Volk entlang der Straße hatte nur Augen für den König, der Seite an Seite mit seinem Freund Montagu heranpreschte, und jubelte ihm frenetisch zu. Vielleicht noch hundert Yards trennten die galoppierende Reiterschar von St. Mary le Bow. Die Königin stand in einem dichten Knäuel ihrer Damen an der Balustrade, alle hatten sich gespannt über die Brüstung gelehnt. Fast unvernehmlich im Donnern der Hufe und dem Jubel der Menge hörte Jonah Holz splittern, ein verstohlener, fast beiläufiger Laut.
Er sah die Königin die Stirn runzeln, das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste für einen Augenblick, und sie schaute leicht verwirrt zur Seite. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen stemmte Jonah sich an der Absperrung hoch.
Crispin umklammerte seinen Ellbogen. »Was hast du vor? Bist du besessen, sie werden dich niederreiten!«
Jonah wandte den Kopf und sah dem Jungen einen Moment in die Augen. Die Tribüne wird einstürzen, wollte er sagen, aberer brachte keinen Ton heraus. Warum merkte denn keiner, was hier geschah? Es war wie in einem Albtraum; die Katastrophe brach herein, und niemand nahm sie zur Kenntnis. Er wusste nicht, was er tun sollte, aber er konnte nicht einfach zusehen.
Mit einem Ruck riss er sich los und setzte über die Absperrung. Noch im Sprung vernahm er den ersten, ahnungsvollen Schrei auf dem Balkon, und er bildete sich ein, es sei die Stimme der Königin. Er taumelte auf die Straßenmitte, den Blick nach oben gewandt. Links neben ihm krachte ein schwerer Holzbalken zu Boden; Jonah fühlte den Luftzug im Gesicht. Von beiden Seiten näherte sich das Donnern der Hufe; er spürte das Beben der Erde durch die Schuhsohlen, und das anschwellende Geräusch hüllte ihn gänzlich ein. Das vordere der Spinnenbeine knickte weg. Unter mahlendem Knirschen neigte die ganze Konstruktion sich nach vorn, und die Damen stießen spitze Schreckensschreie aus. Die zweite Stelze wankte wie eine schlanke Birke im Sturm. Die Königin hatte beide Hände um das Geländer gekrallt und sah mit großen Augen auf die Straße hinab. Mit einem Ruck neigte der Balkon sich weiter, sodass sie um ein Haar heruntergeschleudert worden wäre. Gebannt starrte sie ihrem Mann und Montagu an der Spitze der Turnierreiter entgegen, und als ihr aufging, dass sie von dort keine Rettung zu erhoffen hatte, dass es vielmehr der Tod war, der ihr da entgegenpreschte, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen, und sie stand stockstill.
Jonah warf einen blitzschnellen Blick auf die verbliebene Stelze. Sie würde jeden Moment brechen. Ihm blieb kaum mehr als ein Herzschlag Zeit, um zu handeln. Mit zwei Sätzen hatte er die Tribüne erreicht, breitete die Arme aus und rief: »Springt! Es ist die einzige Chance, springt!«
Philippa hörte seine Stimme, neigte den Kopf und starrte auf ihn hinab, aber sie schien ihn nicht zu erkennen und verstand offenbar auch nicht, was er sagte.
Halb wahnsinnig vor Eile suchte Jonah in seinem Gedächtnis nach dem richtigen Wort. Er wusste genau, dass er es kannte, aber das Dröhnen, das Splittern und die immer zahlreicherenSchreie um ihn herum machten jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich. Dann fiel es ihm plötzlich ein: »Sautez! Sautez, vite!«
Die Königin blinzelte, als sei sie aus einem Tagtraum erwacht, und sie handelte ohne Zögern. Behindert durch ihre langen Röcke, aber doch mit jugendlicher Agilität schwang sie die Beine über die Balustrade, balancierte einen Moment und ließ sich dann fallen. Jonah sah ihr entgegen, und er bildete sich ein, sie fiele stundenlang. Er trat einen halben Schritt zurück, bog den Oberkörper ein wenig nach rechts, und sie landete praktisch direkt in seinen Armen. Mit einem hölzernen
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