Der König und die Totenleserin3
saß in einem davon, und seine kurzen Beine baumelten in der Luft. In dem anderen saß seine Großmutter.
Eine Hand packte Adelias Arm. »Ich wollte dir nichts erzählen, ehe es entschieden ist. Es sollte eine schöne Überraschung sein, falls wir gewinnen. Und es ging alles furchtbar schnell. Aber ich bin so froh, dass du da bist.« Emma ließ ihren Sohn nicht aus den Augen. »Sieh ihn dir an, er hält sich großartig! Ist er nicht süß?«
Das war er wirklich. Aber falls das Ganze eine Art Kampf sein sollte, dann wurde das Kind, das neugierig um sich schaute, von der Frau auf der anderen Seite in den Schatten gestellt. Die alte Lady Wolvercote wirkte ungemein würdevoll. Mit ihrem blassen, starren Gesicht, das durch ein dunkles Kinntuch gerundet wurde, hätte sie eine Statue aus weißem und schwarzem Marmor sein können. Zudem hatte sie mehrere Advokaten neben sich stehen, Männer, die im Gegensatz zu Master Dickon, der jetzt seinen Platz neben Pippy einnahm, auch wirklich aussahen wie Advokaten.
Eine Stimme ertönte vom Podium. Sie hatte den tonlosen, dünnen Klang des Alters und schallte doch bis zu den Zuschauern und darüber hinaus. »Sheriff, hat Philip Wolvercote Euch beauftragt, dafür zu sorgen, dass sein Anspruch vor Gericht verhandelt wird?«
»Das ist Richard De Luci«, hauchte Emma. »Der Oberste Richter. Oh Gott, das ist alles so feierlich. Kann ich Pippy das überhaupt zumuten?«
Der Sheriff von Somerset, ein rotgesichtiger, gehetzt wirkender Mann, dessen Gewänder ebenso gekräuselt waren wie das Sonnensegel über seiner Einzelbank, erhob sich. »Das hat er, Mylord.«
»Und habt Ihr zwölf freie und rechtschaffene Männer aus der Gegend um das Herrenhaus von Wolvercote berufen, die bereit sind, unter Eid auszusagen, ob Lord Ralph Wolvercote, Vater des besagten Philip, am Tage seines Todes im Besitz des besagten Herrenhauses war?«
»Das habe ich, Mylord.« Der Sheriff deutete auf eine Tribüne in der Nähe, auf der zwölf Männer so eng zusammengedrängt waren wie Milchkannen auf einem Karren.
»Wer wird für sie sprechen?«
Einer der Männer befreite sich aus der drangvollen Enge und stand auf. »Ich, Mylord. Richard de Mayne, Ritter, Herr über Ländereien in der Gemeinde Martlake. Mein Land grenzt im Norden an das der Wolvercotes.«
»Habt Ihr und die anderen das in Frage stehende Herrenhaus in Augenschein genommen?« Der Oberste Richter Englands war ebenso dünn wie seine Stimme. Sein Kopf, der an den einer Schlange erinnerte, bewegte sich langsam in die Richtung, in die er seine Fragen stellte, sodass es den Eindruck machte, als würde er bei einer Lüge vorschnellen wie eine Natter, die sich einen Frosch schnappt.
»Das haben wir, Euer Ehren, und aus eigener Kenntnis können wir sagen, dass Lord Wolvercote die Abgaben und Dienste daraus bezog. Er starb andernorts, doch wir sind uns einig, dass das Herrenhaus zu diesem Zeitpunkt sein Eigentum war und dass seine Mutter es nach seinem Ableben in Besitz nahm, nachdem sie zuvor ein Witwengut in der Gemeinde Shepton bewohnt hatte.«
»Damit ist die erste Frage beantwortet«, sagte Emma. Auf Adelias fragenden Blick hin sagte sie zur Erklärung: »Der Erlass zum Recht der Erben stellt nur zwei Fragen … Ich halte das nicht mehr aus, ehrlich, ich werde gleich ohnmächtig.«
Plötzlich erklang eine neue Stimme, ein Kontraalt, über die Wiese, ebenso leidenschaftslos wie De Lucis, aber weit schöner. »Mein Sohn wurde widerrechtlich wegen Verrats von ebendem König gehängt, dem Ihr dient.«
Der Kopf des Richters drehte sich ein paar Zoll zu dem Sessel der alten Lady Wolvercote. »Meines Wissens wurde Euer Sohn wegen Mordes gehängt, Madam, nicht wegen Verrats. Doch diese Frage soll hier nicht geklärt werden. Und Euch als Frau ist es verboten, vor diesem Gericht zu sprechen. Lasst Eure Auslassungen durch Eure Rechtsvertreter äußern.«
Der Einwurf hatte bei den Advokaten, die den Sessel der alten Lady Wolvercote flankierten, für helle Aufregung gesorgt, und der Älteste von ihnen flüsterte ihr beschwörend ins Ohr. Er legte eine mahnende Hand auf ihre Schulter, doch sie schnippte sie mit einem weißen Finger weg.
Der Oberste Richter war noch nicht fertig. »Master Thomas, Eure Mandantin wurde dreimal aufgefordert, vor uns zu erscheinen, doch sie hat sich erst jetzt eingefunden.«
»Ich weigere mich, die Machtbefugnis dieses Gerichts anzuerkennen.« Wieder war die Stimme der alten Lady Wolvercote klar zu vernehmen.
Diesmal
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