Der König und die Totenleserin3
soweit ich weiß.« Er hüpfte beinahe vor lauter Begeisterung darüber.
»Erlass zum Recht der Erben?«, fragte Adelia verwundert.
»Habt Ihr nicht davon gehört? Oh, Mistress, den muss ich Euch erklären, weil er einfach großartig ist.« Er sah sich um, erblickte eine Nische, in der sie alle Platz fanden, während er ihnen diesen großartigen Erlass erläuterte. Dass Mansur dabei war, schien ihn nicht zu stören, und er sprach sowohl ihn als auch Millie mit an. Da er davon ausging, dass sie kein Latein verstanden, sprach er Englisch. Er bewunderte Henry Plantagenet, wie Adelia das schon öfter bei gebürtigen Engländern einfacher Herkunft beobachtet hatte, die ihren König höher schätzten, als der normannische Adel das tat, weil sie Nutzen aus seinen Gesetzen zogen und, wenn sie intelligent waren, Posten erreichen konnten, die zuvor nur den Söhnen des Adels vorbehalten waren.
»Oho, unser König Henry ist gerissen«, sagte Dickon. »Seht Ihr, er schätzt das römische Recht nicht, ich auch nicht – zu viel Inquisition, zu sehr den alten Byzantinern verhaftet, zu viele Verzögerungen. Und er macht Folgendes: Er benutzt das alte angelsächsische Recht, wie unsere Urgroßväter es kannten. Er ist wie ein Bäcker, wenn Ihr versteht, was ich meine, der guten englischen Teig nimmt und ihn verfeinert, knetet, neu formt und mit einer Prise Genie würzt. Irgendwann wird jedes Gericht im Land den Erlass verwenden.«
»Und was hat es mit diesem Erlass zum Recht der Erben auf sich?«, fragte Adelia, die nicht begriff, wohin das alles führen sollte, und nicht mal wusste, ob sie es begreifen wollte.
»Ha, der Erlass zum Recht der Erben.« Aus Master Dickons Mund klang es wie eine Zauberformel. »Das ist der jüngste der königlichen Erlasse. Er hat uns schon den Erlass zum Eigentum und den zur neuen Besitzergreifung gegeben und jetzt …« Er sah Adelias Verwirrung. »Versteht Ihr, das alles sind Möglichkeiten, die anderen Gerichte zu umgehen, indem sie dem Klagesteller das Recht auf königliche Gerichtsbarkeit gewähren. Sie müssen sich nicht mehr an die der Lords oder Sheriffs oder Grundherren wenden, sondern können direkt die des Königs anrufen. Ein Recht, das jedermann zur Verfügung steht, der einen Erlass erwirbt, der auf seinen Fall zutrifft.«
»Wie viel hat Euch der Erlass gekostet?«, hatte der König Mistress Hackthorn gefragt.
Ernüchtert fragte Adelia: »Dann muss man sich die Gerechtigkeit also erkaufen?« Wie typisch für Henry, dachte sie.
Master Dickon runzelte die Stirn. »Gewissermaßen, aber der Preis richtet sich danach, was der Käufer aufbringen kann. Eigentlich geht es jedoch weniger darum, sich Gerechtigkeit zu kaufen, als vielmehr darum, sich die Hilfe des Königs zu sichern, damit die Sache schnell entschieden wird. Nach altem Recht kann es Jahre dauern, bis ein Urteil gefällt wird. Und im Fall von Lord Wolvercote gegen die alte Lady Wolvercote hat Eure Lady Wolvercote einen Erlass zum Recht der Erben für ihren Sohn gekauft. Na ja, selbstverständlich hab ich ihr dazu geraten, wo sie ja eine Frau ist und Lord Wolvercote noch ein Kind.«
»Das hat sie getan?« Seit Emma und Roetger nach Wells aufgebrochen waren, hatte Adelia nichts mehr von ihnen gehört. Und jetzt hatten sie – oder zumindest Emma – ein Gerichtsverfahren, einen Erlass und einen Advokaten. »Also kein Gerichtskampf?«
»Mistress!« Dickon war schmerzlich berührt. »Das ist Barbarei, jawohl. Ich halte nichts von Gerichtskämpfen, viel zu riskant. Wir haben einen Erlass.«
Ein Bürschchen, dem die Mütze eines Schreibers bis über die Ohren hing, zupfte Master Dickon am Ärmel. »Sie kommen, Master.«
»Hoppla. Wir müssen uns sputen. Die Richter kommen.«
Mit flotten Schritten folgten sie dem Bürschchen, und Adelia fragte sich, ob die Mutter des Jungen wohl wusste, dass ihr Kind als Schreiber für einen Advokaten arbeitete.
Das Gerichtsverfahren von Lord Philip Wolvercote gegen seine Großmutter, die alte Lady Wolvercote, hatte großes Aufsehen erregt und fast so viele Menschen angelockt wie ein Gerichtskampf; ein Gerichtsdiener musste ihnen einen Weg nach vorne bahnen, wo in gewisser Weise auch ein Kampfplatz aufgebaut worden war. Ein Sonnensegel mit gekräuseltem Rand schützte das hohe Podium der Richter, die just in diesem Moment ihre Plätze einnahmen. Auf der Wiese vor ihnen hatte man mit einigen Schritten Abstand zwei verzierte Sessel aufgestellt. Pippy, der sich vor den Richtern verneigt hatte,
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