Der König und die Totenleserin3
und hoffte bei Gott, dass sie recht hatte, »das werdet Ihr.«
Sie und Gyltha ließen den Patienten, wo er war, um die Masse trocknen zu lassen, und gingen zum Pferdetrog, wo sie sich das Zeug von den Händen wuschen. Emma, die sie beobachtet hatte, trat zu ihnen. »Wie lange wird das dauern?«
Adelia erwiderte, dass noch einiges mehr zu tun sei, doch Emma wandte sich mit einem Aufschrei ab und ging.
»Launisch, launisch«, sagte Gyltha. »Was hat die denn?«
»Ich weiß nicht.«
Es gab noch
vieles
mehr zu tun. Adelia, der Reitknecht und Mansur arbeiteten den ganzen Vormittag daran, eine Korbhalterung aus Weidenruten zu flechten, die sie sich für das Bein ausgedacht hatten. Die Sohle bestand aus Holz, das Mansur zu einem Halbrund geschnitzt hatte, damit möglichst wenig Druck auf die Ferse ausgeübt wurde, sollte Roetger versehentlich mit dem Fuß auftreten.
Dann und wann tauchte Emma im Fenster ihres Zimmers auf, sah ihnen zu und schnaubte vor Ungeduld, aber Adelia achtete nicht weiter darauf – Roetgers Verletzung war neu für sie, und sie war fest entschlossen, sie zu heilen.
Es war schon nach Mittag, als die Beinwellpaste endlich knüppelhart getrocknet war und die Korbhalterung drum herum gebunden werden konnte. Auch jetzt verzögerte Adelia die Weiterreise noch, um den vorderen Teil der Halterung mit einer Schnur an einem Haken am Dach des Planwagens zu befestigen, sodass der Fuß des Kämpen stoßsicher gelagert war und bei jedem Ruckeln des Wagens lediglich in der Luft pendeln würde.
»Er sieht lächerlich aus«, sagte Emma.
Zum ersten Mal beklagte Roetger sich. »Ich fühle mich wie ein geschnürter Rollbraten.«
Doch Adelia war unnachgiebig. »Und so bleibt Ihr auch«, sagte sie. Kurz hinter Aylesbury würden sie Richtung Südwesten abbiegen und auf kleineren Straßen weiterreisen, die vermutlich in keinem guten Zustand waren.
Und tatsächlich. Während der Regenfälle zu Beginn des Frühjahrs hatten die Räder der Bauernkarren grabentiefe Furchen in die Erde gewühlt, die anschließend niemand aufgefüllt hatte, sodass sie in der Sonne hart wie Stein geworden waren.
Wieder und wieder musste die Reisegesellschaft pausieren, damit die Reitknechte ein Rad befestigen konnten, das sich gelockert hatte. Doch Adelia war stolz auf sich, weil Roetgers Bein in der Halterung bloß hin und her schwang und keinen Schaden nahm. Jedes Mal, wenn sie irgendwo zur Nacht einkehrten, ließ Emma den jeweiligen Dorfvogt rufen und schalt ihn dafür, den Straßenabschnitt, für den er zuständig war, nicht ordnungsgemäß instand zu halten, obgleich ihre Vorhaltungen wohl kaum etwas nützen würden – die Wartung der Straßen war teuer und zeitaufwendig.
Abgesehen von den unwegsamen Straßen verlief die Reise angenehm. Die Luft war erfüllt von Kuckucksrufen und dem Duft der Hyazinthen, die überall, soweit man zwischen den Bäumen hindurchsehen konnte, den Waldboden bedeckten.
Die Furcht vor Überfällen milderten die vielen harmlosen Menschen, denen sie unterwegs begegneten, Menschen, die das gute Wetter ins Freie gelockt hatte: Falkner, Marktvolk, Vogelfänger, Familien auf dem Weg zu Verwandten, Gruppen von rachgierigen Wildhütern, die Füchsen und Mardern den Garaus machen wollten. Die Reisegesellschaft tauschte mit ihnen allen Grüße und Neuigkeiten aus. Zugegeben, Master Roetger hatte zu leiden, wenn sie durch Dörfer kamen, in denen ungehobelte Jungen den festgebundenen und liegenden Mann für einen Strolch auf dem Weg zum Kerker hielten und ihn mit Steinen bewarfen, aber die Fahrt durch die immer lieblichere Landschaft war schön, und Adelia hätte sie genossen, wäre da nicht Emmas seltsames Benehmen und erstaunlicherweise auch das ihrer eigenen Tochter gewesen.
Allie hatte trotz ihrer jungen Jahre schon ihren eigenen Kopf. Zuerst hatte Adelia gedacht, das Kind würde in ihre Fußstapfen treten und wäre ebenso an Anatomie interessiert wie seine Mutter. In gewisser Weise war Allie das auch – aber nur an tierischer Anatomie. Was keine Schuppen, vier Beine, Fell oder Flossen hatte, ließ sie völlig kalt. Jedwede lebende Form der Fauna begeisterte sie, und wenn das fragliche Exemplar tot war, wollte sie wissen, warum es sie begeistert hatte, warum es geflogen, gekrochen, geschwommen oder galoppiert war. Mit drei Jahren hatte sie den Tod der zahmen Dohle, die gern auf ihrer Schulter gesessen hatte, beweint – und sie dann obduziert. Mit vier Jahren kannte sie dank der Hilfe eines einheimischen
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