Der König und die Totenleserin3
ehrwürdigste. Schon die Luft dort ist durchtränkt von einer Frömmigkeit, die zu den Anfängen des Christentums zurückreicht, und vielleicht sogar noch weiter – alles knistert förmlich vor Geheimnissen. Falls Avalon irgendwo ist, dann ist es dort. Falls Arthur irgendwo ist, dann ist er dort. Glastonbury hat eine Schwingung, die einen in die Knie zwingt.« Der König hielt inne, den Blick auf den Fluss gerichtet. »Und es war gütig zu mir. Abt Sigward war einer der wenigen Kirchenmänner, die nicht nach meinem Kopf geschrien haben, nach … dieser Geschichte in Canterbury.«
Nie sprach er den Namen des Mannes aus, der sein Freund gewesen war, sich aber nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury gegen ihn gewandt und jede vernünftige Reform behindert hatte, die er durchsetzen wollte, und dessen Ermordung den Zorn der Christenheit auf sein Haupt geladen und seiner neidischen Ehefrau und seinem noch neidischeren ältesten Sohn den Vorwand geliefert hatte, sich gegen ihn zu erheben.
Die Tat hatte seinen Namen auf immer besudelt, und das wusste er. Er würde als der König in die Geschichte eingehen, der den heiligen Thomas à Becket zum Märtyrer gemacht hatte.
Nicht zum ersten Mal spürte Adelia die Tiefe des Leidens, das sich hinter dem tatkräftigen Äußeren dieses Plantagenets verbarg – als würde sie daran erinnert, dass am Ausgang einer nur leicht aufgewühlten Meeresbucht ein sturmgepeitschter Ozean lag. Er hatte bitterlich bereut, dass er Beckets Tod gefordert hatte, dass es seine Ritter waren, die daraufhin mit ganz eigenen Gründen, den Erzbischof zu hassen, nach Canterbury geritten waren und das Hirn des Mannes auf den Boden der Kathedrale spritzen ließen – und die Kirche hatte dafür gesorgt, dass er diese Reue rückhaltlos offenbarte. Zur Buße hatte er barfuß nach Canterbury laufen müssen und sich von den dortigen Mönchen den nackten Rücken auspeitschen lassen.
»Und wahrhaftig, sie haben ihn ausgepeitscht«, hatte Prior Geoffrey, der damals dabei gewesen war, Adelia erzählt. »Mit sichtlichem Vergnügen. Die Geißeln schnitten ihm tief ins Fleisch, und alle Umstehenden waren erstaunt, dass er nicht laut aufschrie. Er blieb stumm, doch die Streifen auf seinem Rücken wird er ein Leben lang tragen.«
Durch diese Selbsterniedrigung hatte der König England vor einer schlimmeren Strafe bewahrt und einen wütenden Papst besänftigt, der gedroht hatte, andernfalls das Interdikt über das Land zu verhängen: Kirchen wären geschlossen worden, Ehen wären ungesegnet, Neugeborene ungetauft geblieben, die Beichte wäre nicht mehr abgenommen, die Sterbesakramente nicht mehr erteilt worden – es wäre der Exkommunikation eines ganzen Volkes gleichgekommen.
Ja, dachte Adelia mitfühlend, Henry Plantagenet hat für seinen Jähzorn bezahlt, damit sein Volk es nicht musste.
Er wurde wieder munter. »Im Gegenzug bin ich verpflichtet, gütig zu Glastonbury zu sein – es muss wieder aufgebaut werden. Sobald ich ihn entbehren kann, entsende ich Ralph Fitz-Stephen, er ist mein Seneschall, um festzustellen, was benötigt wird. Das wird teuer werden, das kann ich Euch schwören. Gott weiß, wie viel mich das kostet. Es sei denn …«
»Es sei denn, es strömen wieder Tausende von Pilgern hin, um Arthurs Grab zu besuchen«, sagte Adelia und lächelte. Oh, er war ein durchtriebener König.
»Genau.«
Sie überlegte. Henry verlangte beinahe das Unmögliche – aber nicht ganz. Sie wäre zwar nicht in der Lage, das Alter der Skelette zu bestimmen, aber bei dem Sarg verhielt sich das anders. »Wann hat Arthur angeblich gelebt?«, fragte sie.
Der König drehte sich zum Tisch um. »Wann war das, Robert?«
Der Schreiber ließ seine Feder sinken und spitzte die Lippen. »Der walisische Mönch Nennius erwähnt in seiner
›Historia Brittonum‹,
dass Arthurs letzte Schlacht am Mons Badonicus stattfand, wo er allein neunhundertsechzig Männer erschlug. Der heilige Gildas, der, wie wir alle wissen, in der Abtei von Glastonbury begraben liegt, überliefert uns, dass diese Schlacht im Jahr seiner Geburt geschlagen wurde: unserer Vermutung nach entweder im Jahre des Herrn 494 oder 506, wenngleich die
›Annales Cambriae‹
sie etwas später ansetzen, wohingegen das …«
»Schon gut, schon gut.« Der König wandte sich wieder Adelia zu. »Irgendwann zu Beginn des sechsten Jahrhunderts – wünscht Ihr den genauen Tag?«
»Hmm.« Ein Sarg, der sechzehn Fuß tief in der Erde entdeckt wurde,
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