Der König und die Totenleserin3
würde sie nicht zurücklassen.
In einer Halle, die ebenso wohlproportioniert war wie das Äußere des Hauses, verneigte sich ein Kämmerer mit Amtsstab vor den vieren.
Hier fiel das Sonnenlicht in Streifen durch die hohen Fenster. Die dicken Steinmauern, die außen so warm waren, kühlten die Luft und verliehen dem Raum das grünliche Licht eines von Felsen umschlossenen Teiches. Auf der eleganten Eichenholztreppe, dem Kamin, den Möbeln und den Steinplatten des blanken Bodens hatte sich durch pflegliches Polieren im Laufe von Jahrzehnten eine satt schimmernde Patina gebildet. Die allzu zahlreichen scharlachrot-silbernen Wolvercote-Kriegsfahnen, die von der verputzten Balkendecke hingen, störten den Frieden des Raumes ein wenig, aber vermutlich hatte Emma noch nicht die Zeit gefunden, sie entfernen zu lassen.
»Mylady bittet Euch zu warten«, sagte der Kämmerer. »Sie geht noch im Sonnenzimmer mit ihrem Kellermeister die Bücher durch, doch sie wird sich Euch bald widmen.«
Auch dies sehr seltsam. Die Emma von früher wäre die Treppe heruntergestürmt gekommen, um sie zu begrüßen. Sie war doch wohl nicht immer noch eifersüchtig?
Adelia warf Gyltha einen fragenden Blick zu. Gyltha zuckte die Achseln.
Man ließ sie allein. Nach einer Viertelstunde brachte der Kämmerer Becher und einen Krug mit kühlem Ale auf einem Tablett herein, bat sie, sich zu bedienen, und ging wieder.
Wieder verstrichen einige Minuten, ohne dass Emma oder sonst wer erschien. Allie vertrieb sich die Zeit damit, auf eine Eichenbank zu klettern und wieder runterzuspringen. Es deutete nicht das Geringste darauf hin, dass in diesem Haus ein anderes Kind lebte. Das einzige Geräusch war das Zischen einer Sense von jemandem, der draußen Gras mähte.
Adelia wurde ärgerlich. Das war bewusste Unhöflichkeit. Sie bewegte sich in Richtung Treppe, um hinaufzugehen, doch in dem Moment öffnete sich oben eine Tür. Ein Mann mit Schürze kam heruntergehastet, ein Wirtschaftsbuch unter dem Arm, lupfte seine Kappe vor Adelia und verschwand aus der Halle.
Eine andere Person erschien oben am Treppenabsatz. »Ja?«, fragte eine Frauenstimme.
Adelia verneigte sich knapp und stellte sich und ihre Begleitung vor. »Da Master Mansur unsere Sprache schlecht versteht, bin ich seine Übersetzerin, Mistress«, sagte sie. »Wir sind hier, um Lady Wolvercote zu besuchen.«
»Ich bin Lady Wolvercote.«
»Ah.« Das war dann also die Schwiegermutter – eine etwas jüngere, gut gekleidete und sehr viel unnahbarere Gestalt als die liebevolle Großmutter, die Adelia sich hoffnungsfroh vorgestellt hatte. Emma selbst war sicherlich irgendwo unterwegs.
Dass die Frau, die jetzt die Treppe herunterkam, die Mutter des rebellischen Mörders war, den Henry hatte aufhängen lassen, war unübersehbar. Sie war beinahe ebenso groß und hatte dieselben herrischen und attraktiven Gesichtszüge. Dunkle Augen, die denen des Mannes, der Adelia einst als Hexe bezeichnet hatte, exakt glichen, schauten jetzt auf sie herab und ließen ein wenig von demselben Widerwillen erkennen.
Adelia fiel ein, dass Emma zwar die Mutter ihres Ehemannes nie kennengelernt hatte, aber von deren normannischer Ahnenreihe tief beeindruckt gewesen war, die bis weit vor die normannische Eroberung zurückreichte. »Sie stammt von Rollo dem Wikinger ab«, hatte Emma ehrfürchtig gesagt.
Adelia hatte nicht verstanden, was so großartig daran sein sollte, von einem Wikinger abzustammen, der die Normandie überfallen und geplündert hatte, bis sie sich ihm schließlich unterwarf. Doch Emma, die trotz der Reichtümer ihres Vaters als Händlerstochter Wert auf eine noble Abstammung legte, glaubte offenbar, dass Pippys Herkunft dadurch aufgewertet wurde, vor allem weil dies auf die weibliche Seite der Familie zurückging und nicht auf seinen verhassten Vater.
Und diese Frau legte ebenfalls Wert auf ihre Herkunft. Ihr Aussehen machte Adelia schamhaft ihre eigene Kleidung bewusst, die sie unterwegs erstanden hatte und die zwar zweifellos besser war als die der Frau des walisischen Stammesfürsten, aber noch immer von ausgesprochen einfacher Qualität. Dennoch sagte sie höflich: »Habe ich die Ehre, mit der Schwiegermutter von Lady Wolvercote zu sprechen?«
»Nein. Ich
bin
Lady Wolvercote.«
»Ist Eure Schwiegertochter nicht hier?«
»Meine Schwiegertochter starb vor fünf Jahren.«
Das entsprach natürlich irgendwie der Wahrheit: Wolvercote war tatsächlich schon einmal verheiratet gewesen, ehe er Emma
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