Der König und die Totenleserin3
»Die haben uns nicht mal durchs Tor gelassen, um an einen Trog zu kommen. Das gastliche Somerset? Ich spuck drauf.«
Der Umstand, dass Emma und ihre Begleiter verschwunden waren, ließ ihn kalt.
»Könntet Ihr nicht einen von Euren Burschen nach Wells schicken?«, bat Adelia. »Vielleicht sind sie in einem der Gasthäuser dort abgestiegen.«
»Ich glaub, das Biest hat sie aufgefressen«, sagte Gyltha und fuhr auf Adelias zornigen Blick hin fort: »Tja, zutrauen würd ich’s der.«
»Nein, das kann ich nicht, Mistress«, sagte Bolt. »Habt Ihr gesehen, wie viele Gasthäuser es da gibt? Schon allein auf der High Street sind wir an Dutzenden vorbeigekommen. Ich kann weder einen Mann noch die Zeit dafür erübrigen.«
Wie üblich war er in Eile. Er hatte Befehl, Adelia samt Begleitung heil nach Glastonbury zu bringen, sich zu vergewissern, dass sie sicher untergebracht waren, und dann schnellstmöglich zum König zurückzukehren. Die Suche nach vermissten Ladys gehörte nicht zu seinen Aufgaben.
»Ihr könntet den da losschicken«, sagte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter zu der Stelle, wo Rhys der Barde im Schatten einer Eiche ruhte, einen Krug Ale neben sich, ein Hühnerbein in einer Hand, während die andere auf den Saiten der Harfe klimperte, die er zwischen den Knien hielt. »Auf den kann ich verzichten.«
Das konnten sie alle. Zu Anfang hatte der Waliser ihnen mit Spiel und Gesang die Reise versüßt, doch wie Hauptmann Bolt klagend über ihn sagte: »Der macht ja nix anderes.«
Und das stimmte – Rhys war völlig unfähig, bei den auf einer Reise anfallenden Arbeiten zur Hand zu gehen. Wenn er irgendwas holen oder tragen sollte, ließ er es unweigerlich fallen. Da er die meiste Zeit seines Lebens zu Fuß oder auf ungesattelten Welshponys zugebracht hatte, jagten ihm Pferde eine solche Angst ein, dass er nicht mal ihre Sattelgurte straffen oder ihnen Zaumzeug anlegen wollte oder konnte, sodass einer der Soldaten das für ihn erledigen musste.
Dagegen hatte er erstaunlich viel Erfolg bei den Frauen. Wenn er abends in dem jeweiligen Gasthaus, wo sie abgestiegen waren, kräftig beim Essen zugelangt hatte, gelang es ihm stets, irgendwie zu verschwinden, und ehe sie am Morgen weiterreisen konnten, mussten sie ihn suchen, um unweigerlich im Schlafzimmer irgendeiner Frau fündig zu werden. Es trieb Hauptmann Bolt in den Wahnsinn. »Wie stellt er das an?«
Adelia wusste es auch nicht, aber es war unbestreitbar, dass der schiefzahnige, schusselige und nicht allzu saubere Rhys mit
seiner Musik so manche Jungfer dazu brachte, ihre Tugend zu vergessen.
Auch Mansur konnte ihn nicht ausstehen, vielleicht weil Gyltha, die für Müßiggänger normalerweise kein Verständnis hatte, für Rhys rührselige Geduld aufbrachte. »Seine schöne Stimme ist es wert«, sagte sie gern und sorgte liebevoll dafür, dass sein Teller stets voller war als der aller anderen.
Allie war ihm regelrecht verfallen, so wie er ihr. Die einzige Nacht, in der er kein Liebesabenteuer gesucht hatte, war die gewesen, in der die Kleine an üblem Bauchweh litt, nachdem sie in einem Obstgarten ein paar unreife Holzäpfel aufgelesen und gegessen hatte. Er hatte an ihrem Bett gewacht und sie mit einem Lied beruhigt, das den arabischen Stern Almeisan besang, nach dem sie benannt war.
Seither war Adelia bereit, ihm sehr viel zu verzeihen, wenngleich sie sich mitunter, wenn er Hauptmann Bolt mal wieder bis zur Weißglut gereizt hatte, doch fragte, warum um alles in der Welt Henry ihr den Barden mit auf den Weg gegeben hatte.
»Weil er ihn loswerden wollte, darum«, lautete Bolts Antwort. »Den verdammten Walisern konnte er ihn ja wohl nicht zurückgeben, oder?«
Nein, wahrscheinlich nicht. Rhys’ Landsleute wären nicht gut auf einen Mann zu sprechen, der dem englischen König einen toten Arthur lieferte.
Wie auch immer, es hätte keinen Sinn, ihn auf die Suche nach Emma zu schicken. Selbst wenn ganz Wells seine Töchter einsperrte, war fraglich, ob er den Weg zurück finden würde.
Im Augenblick blieb Adelia nichts anderes übrig, als nach Glastonbury weiterzureisen und zu hoffen, Emma durch weitere Nachforschungen ausfindig zu machen.
Die Straße dorthin war kurvenreich, und als es dunkel wurde, war niemand mehr auf ihr unterwegs.
Das Gesetz, demzufolge alle Bäume, die weniger als einen Bogenschuss weit vom Wegesrand entfernt wachsen, gefällt werden sollten, damit Reisende weniger leicht in einen Hinterhalt gerieten, war
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