Der König und die Totenleserin3
Erstaunliches für einen so praktisch veranlagten Mann: »Darauf würd ich mich nicht verlassen. Dieses Feuer hat mehr Schaden angerichtet, als wir wissen, scheint mir. Irgendwas ist von hier verschwunden, und etwas anderes ist dafür gekommen.«
Rhys begleitete sie, als sie zur Abtei aufbrachen. »Ich sollte Onkel Caradocs Grab die Ehre erweisen«, sagte er. Anscheinend wollte er das singenderweise tun, denn er nahm seine Harfe mit.
Auch Hilda kam mit, beladen mit einem schweren, abgedeckten Korb, ebenso wie Godwyn, der sie jedoch nur das kurze Stück bis zum Kai begleitete, wo etwas zurückgesetzt ein Bootshaus stand. Das Ruderboot des Gasthauses lag am Pier vertäut. Er wollte frische Lebensmittel holen.
»Denk dran«, rief Hilda ihm nach, »Wild, wenn sie welches haben, und einen guten Schinken. Und bring das Mädchen mit!« Zu Adelia sagte sie: »Wir können jetzt Hilfe gebrauchen, und Millie ist fleißig, auch wenn sie ein bisschen schwer von Kapee ist …«
Dann beschrieb sie ausführlich die Dienerschaft, die sie in den Zeiten hatten, als die Pilger noch in Scharen kamen, und welche hochherrschaftlichen Besucher schon bei ihnen abgestiegen waren. »Jawohl, Königin Eleanors eigene Hofdamen, wo doch im Gasthaus der Abtei kein Platz für sie war; oh ja, das ›Pilgrim Inn‹ hat schon so manche adelige Herrschaft begrüßt …«
Adelia hörte kaum hin. Sie war bezaubert von der Aussicht, die man vom Kai aus hatte. Gleich vor ihr floss der Brue, der sich wie eine schimmernde blaue Intarsie dahinwand, eingelassen in eine feuchte, wilde Schilflandschaft, die bis zum Horizont reichte. Möwen schwangen sich durch die Luft, die ganz leicht nach Salz schmeckte – irgendwo in dieser endlosen Ferne lag der breite Mündungsarm des Severn und dahinter die Keltische See, die nur durch diese flache, unbestimmte Berührung von Erde und Himmel ferngehalten wurde.
Allie hüpfte vor Freude. »Ist wie zu Hause, Mama.« Sie wechselte ins Arabische: »Können wir angeln gehen, Mansur? Können wir?« Daheim in Waterbeach hatten die beiden den Haushalt mit Fischmahlzeiten versorgt. Sie fiel wieder ins Englische: »Und kuck mal, da läuft ein Mann auf Stelzen, wie bei uns zu Hause. Darf ich auch Stelzen haben, Mama? Darf ich?«
»Nein, darfst du nicht, kleines Fräulein.« Hilda war plötzlich ernst. »Wenn du die Wege da draußen nicht kennst, zieht der Sumpf dich in die Tiefe und füllt dein Näschen mit Schlamm, sodass du nie wieder atmen kannst.«
»Mach dem Kind nich so eine Angst!«, schnauzte Gyltha die Wirtin an, und Allie fügte trotzig hinzu: »Ich hab keine Angst. Ich komm nämlich aus dem Sumpfland, jawohl.«
»Ist mir egal, wo du herkommst«, entgegnete Hilda. »Das hier sind die Avalon-Sümpfe, und da draußen gibt’s Gespenster.«
Die Sümpfe hier sind nicht so schön wie unsere daheim, dachte Adelia, weil sie fast baumlos sind. Aber sie wusste, wie es ihrer Tochter erging. Dieser einsame Stelzenläufer, der einem ungelenken Reiher vor dem Horizont glich, war eine Erinnerung an die Heimat, wo Männer und Frauen Stelzen benutzten, um uralte Pfade zu begehen, die unter Torf und seichtem Wasser verborgen lagen. Dort war nicht bloß eine kolossale Fülle an Fischen und Vögeln und Brennstoff, sondern auch eine faszinierende Welt. Da stieg ein Pelikan auf mit einer zappelnden Forelle im Schnabel, Otter rutschten aus purer Lebensfreude die Uferbänke hinab, Libellen schwirrten durch die Luft, Biber bauten Dämme – kurzweilige Wunder, die sie und Allie mitunter stundenlang beobachtet hatten.
Hilda versuchte noch immer, Allie Angst vor den Sümpfen einzujagen, vermutlich berechtigterweise, denn jedes Sumpfland war für Ortsunkundige gefährlich. »Nachts lauern da Weidenbolde mit Lichtern, um dich in die Tiefe zu locken …« Sie wedelte mit den Armen. »Huhuhuuuu.«
»Wir nennen die Irrlichter«, sagte Allie, die sich nicht leicht ängstigte, »und Mama sagt, die sind ein Naturphämonen.«
»Phänomen«, berichtigte Adelia, »ein Naturphänomen.« Weiter draußen sah sie Inseln, kleine Buckel in der flachen Weite, wie die geschwungenen Rücken von Delfinen, versteinert im Moment des Abtauchens. Godwyns Boot hielt auf die nächstgelegene zu. Sie hätte gerne mehr über diese Inseln gewusst, aber sie vergeudete schon jetzt die Zeit des Königs. Wenn das so weiterging, würde Gylthas wachsender Ärger über Hilda noch im Streit enden.
Sie stupste Mansur an. »Geht vor, Mylord!«
Sie wandten sich nach
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