Der König von Berlin (German Edition)
Ärger machte, weil er nie zum Unterricht kam, dachte ich, lass gut sein, der Junge braucht einfach seine Zeit. Ich wollte ihn nicht bevormunden, mich nicht so in sein Leben mischen. Er sollte seinen Weg finden. Aber dann habe ich irgendwann an einem Donnerstag gemerkt, der war die ganze Woche noch nicht draußen. Das fand ich nicht gut und hab’s ihm gesagt. Er meinte daraufhin, er sei den ganzen Monat, ja das ganze Jahr noch nicht draußen gewesen. Da war es Ende April. War ich natürlich erschrocken. Blass war er geworden. Aber was hätte ich denn machen sollen? Die Polizei rufen? Damit die ihn aus der Wohnung holt? Gibt es ein Gesetz, das verbietet, jahrelang zu Hause zu bleiben?»
Frau Adler machte nur eine kurze, rhetorische Pause. «Wir haben dann viel gestritten. Sehr, sehr viel gestritten. Aber irgendwann habe ich das auch nicht mehr ausgehalten. Ich meine, er ist doch mein Sohn. Da kann ich doch nicht immer nur streiten. Das hält doch keine Mutter aus. Also habe ich ihn machen lassen. Dachte, der berappelt sich schon wieder, irgendwann wird er rausgehen. Muss ihm doch langweilig werden hier drin. Isses aber nicht geworden. Also, er sagt, ihm sei nie langweilig. Er hat hier seine Computer, seine Online-Spiele, die sozialen Netzwerke. Was er braucht, lässt er sich schicken. Ihm geht es gut, sagt er. Jetzt war er schon seit sechs Jahren nicht mehr draußen. Kein Interesse mehr dran, sagt er, und geht ja auch alles – weil ich mich kümmere. Aber wenn ich mal sterbe, was dann? So geht es eben doch nicht weiter.»
Irgendwann im Laufe ihrer Litanei musste Frau Adler Markowitz vergessen haben. Ihre letzten Sätze hatte sie eher zum Boden als zur jungen Kommissarin gesagt. Jetzt erschrak sie fast, als sie wieder eine andere Stimme hörte.
«Vielleicht hat er nach all der Zeit auch einfach nur Angst vor dem Draußen. Vorhin im Treppenhaus hat er geschwitzt und am ganzen Körper gezittert.»
Entrüstet fuhr die alte Frau auf. «Natürlich hat er Angst. Was denn sonst? Deshalb habe ich ja meine Hoffnungen in den Herrn Wolters gesetzt. Morgen oder übermorgen wollte ich ihn einladen, damit er Ralf kennenlernt, und dann sollen die mal zusammen was unternehmen, draußen. Muss ja nichts Dolles sein. Nicht weit und nicht lange. Die können vielleicht einfach zusammen ein Stück Kuchen essen. Bei ‹Mr. Minsh›, den Kuchen liebt der Junge, ist ja gleich um die Ecke. Meinetwegen können sie den auch beim Herrn Wolters oben auf dem Balkon oder im Hof essen. Hauptsache draußen. Irgendwie so was.»
Markowitz vermutete, dass Frau Adler diesen Plan wahrscheinlich seit Wochen, wenn nicht Monaten hegte, ohne ihn auszuführen, sagte aber nichts dazu, um sie nicht noch mehr aufzuwühlen. Lieber wollte sie begreifen, was in diesem Raum eigentlich vor sich ging. Womit genau verbrachte Ralf Adler seine Zeit? Es lag viel Papier herum. Schreiben, Pläne, Rechnungen, auf etlichen Blättern war der Briefkopf der Firma Machallik oder anderer Kammerjägerbetriebe zu sehen. Manche Mappen hatten aber auch ein Logo, das fast wie ein Siegel aussah: «MaMMa». Carola Markowitz kannte dieses Zeichen aus ihrer Kindheit. An den Wänden fielen ihr neben vor Zetteln überbordenden Pinnbrettern, den Flachbildschirmen und einigen Fantasy-Plakaten auch noch verschiedene Pläne der Stadt auf: Berlin als Karte, als Satellitenbild, dazu auch eine Art Röhrensystem-Plan, ungewohnt, aber deutlich erkennbar Berlin. In einer Ecke hingen Karten der einzelnen Bezirke. Sie waren, wie die Berlin-Pläne, eigens angestrahlt. Überhaupt war der so düster eingerichtete Raum gut ausgeleuchtet, was ihm wohl diese unwirklich-ungemütliche Aura eines Filmsets verlieh. Wegen einer Lichtphobie schloss sich der Junge sicher nicht hier ein, so hell waren die Berliner Tage selten. Langsam, als sollte es Frau Adler gar nicht bemerken, bewegte Markowitz sich zur Schreibtischzentrale inmitten des Raums: fünf Tische, wie ein Sechseck aufgebaut, eine Seite offen. Auf jedem Tisch ein zur Mitte gedrehter Bildschirm, daneben Papier, Geräte wie Drucker und Laufwerke und jede Menge Süßigkeitenpackungen. In der Mitte des Sechsecks thronte ein weiteres Schreibtischsesselmonstrum auf Rollen, noch größer als die anderen, mit Getränkehaltern und integriertem Kopfhörer. Offensichtlich eine Sonderanfertigung. Da Frau Adler nicht den geringsten Einwand erhob, ging Markowitz in das Sechseck hinein, sah sich die Papiere auf den Tischen an und ließ sich dann in den Sesselkoloss
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