Der König von Berlin (German Edition)
Fünfundzwanzig Minuten vor Beginn des Raids. Das reichte gerade noch, um die neuen Aufträge rauszuschicken. Dann würde er sich mit den Gefährten den Quests eines virtuellen Universums stellen. Die reale Welt hingegen trieb er in einen Kampf gegen die Ratten, und er war gespannt, wie die Stadt sich schlagen würde. Vorher würde sie sogar noch die Kammerjägerfirmen bezahlen. Wie immer. Die Firmen, die nichtsahnend die Handlangerdienste für ihn verrichteten. Keiner kannte die Zusammenhänge. Die kannte nur er. Jeden Tag wuchs die Zahl der Ratten, alle drängten sie in die Innenstadt, und niemand außer ihm wusste, warum. Der alte Machallik wäre zufrieden gewesen. Aber der alte Machallik war ja nicht mehr. Natürlich folgte er dem Plan, doch er war jetzt frei, vollkommen frei.
Das Einzige, was er zu fürchten hatte, war ihr Gemecker, ihr ständiges Gemecker. Aber das würde sicher auch irgendwann wieder aufhören.
Die Aufträge waren raus und jagten nun um die Welt, Millionen von Kilometern, bis sie in wenigen Sekunden wieder in Berlin ankommen würden.
Endlich konnte er entspannt seinen Feldzug beginnen.
[zur Inhaltsübersicht]
Zweiter Tag
A ls Lanner gegen 9 Uhr ins Präsidium kam, fühlte er sich wie ein nasser Lappen, den man zum Trocknen in die Sonne gehängt hatte. Bier war das Einzige, was Georg Wolters ausreichend im Haus gehabt hatte. Am Morgen war keins mehr übrig gewesen. Die beiden hatten sich auf eine wesentliche zivilisatorische Errungenschaft des menschlichen Miteinanders in Norddeutschland besonnen: Man muss sich gar nicht besonders mögen, um gemeinsam zu trinken. Eine bahnbrechende Erkenntnis, die Norddeutschland nach dem Preußisch-Dänischen Krieg 1864 befriedet hat und bis heute einigermaßen im Gleichgewicht hält.
Sicherlich wäre Lanners Kater zahmer gewesen, hätte er wenigstens einen Teller Nudeln gegessen. Doch aus Furcht vor dem nächsten Gürtelloch verzichtete er nach 18 Uhr auf Kohlenhydrate, dies war, wie seine Mutter irgendwo gelesen hatte, die einzig wirksame Diät, auf die sich derzeit alle Experten – also Schauspieler, Komödianten, Frauenzeitschrifts-Kolumnistinnen, Fernsehköche und die lustigen Schlankmacher-Mentaltrainer – einigen konnten. Obwohl Lanner manchmal auch am Sinn der Regel zweifelte. Wenn er etwa wieder mal um Viertel vor sechs an eine Imbissbude stürmte, um hastig eine große Portion wehrlose Pommes in sich reinzuschaufeln. Die mussten ja vor 18 Uhr vertilgt sein, wenn er nicht noch dicker werden wollte. Der diesem Tun innewohnende Selbstbetrug war ihm zwar bewusst, aber wenn er sich auch noch den Selbstbetrug verboten hätte, dann wäre er vermutlich gar nicht mehr zu motivieren gewesen, die strengen Regeln für ein gesundes Leben zu befolgen.
Immerhin war er pünktlich im Präsidium, das war ja schon etwas. Es war ihm alles andere als leichtgefallen, sich aus der Symbiose mit seiner Schlafcouch zu lösen. Ohne medizinische Hilfe wohlgemerkt. Die Schlafcouch war seit Monaten keine Couch mehr. Lanner hatte es noch immer nicht geschafft, sich ein richtiges Bett zu besorgen. Von einem richtigen Tisch, einem richtigen Schrank oder einem richtigen Sessel ganz zu schweigen. Nach wie vor behalf er sich mit Kartons und einem halb bis drei viertel aufgebauten Regal. Dabei gab es direkt vor seiner Haustür gigantische Möbelhäuser. Er hatte sich bereits dabei ertappt, wie er an ihm interessierte Frauen schon bei der zartesten Anbahnung abblitzen ließ, nur weil er fürchtete, er müsse im Falle näheren Kontakts über kurz oder lang seine Wohnung aufräumen und vor allem einrichten. Den Aufwand wäre ihm die Sache dann doch nicht wert.
Eigentlich hätte er sich gern für cool gehalten, weil er auf so bourgeoisen Quatsch wie Wohnungseinrichtung verzichtete, aber leider ging ihm dieses coole Wohnen in Wirklichkeit ziemlich auf die Nerven. Wie heute Morgen, als er verzweifelt nach einem frischen Hemd suchen musste, ein gebügeltes war ohnehin illusorisch. In diesem Punkt würde er bald eine Entscheidung treffen müssen: entweder die Hemden in eine Reinigung mit Bügelservice geben oder viele trendige Pullover und T-Shirts kaufen, die man gut unter dem Sakko tragen konnte, so wie es die lässigen jungen «Tatort»-Ermittler machten.
Er hatte also gesucht und irgendwann tatsächlich ein okayes hellgraues Hemd gefunden. Im Karton mit den Küchensachen. Hellgrau war eine Superfarbe für Hemden, zumindest, wenn man nur selten zum Waschen und nie zum Bügeln
Weitere Kostenlose Bücher