Der König von Berlin (German Edition)
Lehrerin. Georg freute sich, dass er alldem gern folgte. Auch das war Glück. Es war ja nicht selbstverständlich, dass man sich für das, was einem das Gegenüber erzählte, aufrichtig interessierte. Es wäre ihm äußerst peinlich, aber durchaus möglich gewesen, dass ihn Sabine Kreutzers Erzählungen kolossal gelangweilt hätten. Aber sie war eine charmante, gute Erzählerin. Zudem humorvoll, da war er sich nach der ersten Begegnung im Hof gar nicht sicher gewesen. Aber an dem Tag hatte sie unter Stress wegen der Ratten und ihrer Tochter gestanden, daher wohl auch dieser angestrengte, leicht schrille Ton in ihrer Stimme. Der war sehr unangenehm gewesen. An den konnte er sich noch gut erinnern. Der klang in etwa wie … wie … wie jetzt auch wieder!
«Da! Da! Da!»
Erst jetzt bemerkte Georg, dass Sabine Kreutzer ihre Erzählung unterbrochen hatte, mit vor Schreck geweiteten Augen panisch um sich blickte und mit den Armen sinnlos herumfuchtelte. Ihre unerfreuliche Überschlagsstimme dramatisierte die Dinge zusätzlich.
«Da! Da! Da!»
Georg nahm wahr, dass auch die anderen Gäste laut wurden. Sein Blick folgte Sabine Kreutzers umherirrendem Zeigefinger, doch das war schon gar nicht mehr notwendig. Georg erkannte, wie zwischen den schreiend aufspringenden Gästen kleine graue Torpedos über die Tische schossen. Gläser klirrten, Besteck wurde geworfen oder in die Tischplatten gerammt, Stühle krachten zu Boden, Tiere fiepten, Menschen brüllten. Immer mehr Ratten kamen plötzlich von überall her, von sämtlichen Ecken des Platzes – und alle drängten zu den Tischen, zu den Menschen, zur Nahrung.
«Tu was! Du musst was tun! Du bist Kammerjäger!» Georg hörte Sabine Kreutzer, die direkt in sein Ohr schrie, während er wie paralysiert auf den Kampf zwischen Mensch und Tier starrte. Er spürte ständig etwas über seine Schuhe huschen, seine Knöchel streifen, und war froh über die gutsitzende Hose, die so eng geschnitten war, dass unmöglich eine Ratte unten reinschlüpfen konnte. Er beobachtete das Heer der kleinen Angreifer, wie sie an den Gästen hoch auf die Tische sprangen, von umherschlagenden Armen durch die Luft geschleudert wurden, und dass erste Sturmkommandos ins Innere der Lokale vordrangen. Die Zahl der Ratten auf dem Platz wuchs und wuchs, und zwar in Windeseile. Georg hatte keine Ahnung, wann es enden würde, ob es überhaupt enden würde oder nicht alle hier in kürzester Zeit in einem Rattenmeer untergingen.
«Tu endlich was!» Die furchteinflößende Stimme seines Dates schrillte ihm im Ohr. Nun schubste Sabine Kreutzer ihn auch noch, in Richtung Epizentrum. Als er dennoch nichts unternahm, sprang sie auf den Tisch und übertönte alles mit ihrem detonierenden Organ: «LASSEN SIE IHN DURCH, ER IST KAMMERJÄGER!!!» Dann gab sie ihm einen Tritt.
Nach einem kurzen Schock spürte Georg, dass jetzt tatsächlich all die angstvollen Blicke auf ihn gerichtet waren. Es gab kein Entrinnen. Also atmete er kurz durch und brüllte dann: «Alle Lebensmittel zu den S-Bahn-Bögen! Dahin, wo die Ratten freien Abzug haben!» Er ruderte hektisch mit den Armen in Richtung der Bögen und brüllte es noch mal, wurde aber von Sabine Kreutzers Monstersopran übertönt. «Unter die S-Bahn! Alles Essen unter die S-Bahn!» Georg registrierte erfreut, wie die Kellner und einige Gäste seiner Anweisung folgten. Umtost von rasenden Ratten, wuchs sein Selbstbewusstsein. «Die anderen bauen aus den Tischen einen Fluchtkanal! In die andere Richtung, zur Kreuzung! Einen sicheren Fluchtkanal! Aus Tischen!»
Wieder machte Sabine Kreutzer den Lautsprecher für ihn, und tatsächlich begannen unverzüglich die Bauarbeiten. Der Fluchttunnel konnte erstaunlich schnell in Betrieb genommen werden. Georg eröffnete ihn mit einem: «Frauen und Kinder zuerst!»
«Und Senioren!» Ein älterer Herr hatte sich neben Georg aufgebaut.
«Was?»
«Senioren. Senioren sollten auch zuerst dürfen.»
Georg zuckte die Schultern. «Also meinetwegen. Frauen, Kinder und Senioren zuerst!»
«Und Behinderte?» Ein Rollstuhlfahrer tauchte neben ihm auf.
«Um Gottes willen, natürlich auch Behinderte! Also die Reihenfolge ist: Kinder, Behinderte, Frauen, Senioren!»
«Warum Frauen vor Senioren?»
«Ist doch egal!»
«Was ist mit weiblichen Senioren?»
«Direkt hinter den Behinderten!»
«Was kommt dann? Was kommt nach Senioren?»
«Wie, was kommt dann?» Georg wollte gerade darüber nachdenken, als ihm auch schon Studenten-, Presse- und
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