Der König von Berlin (German Edition)
BVG-Ausweise unter die Nase gehalten wurden, sogar einen Diplomatenpass sah er. Die Diskussion wurde jedoch jäh beendet. Es knallte laut im nächsten Lokal, dann brach Feuer aus. Eine Explosion. Das hatte einen doppelten positiven Effekt: Einerseits brachte es das Beste in einigen Gästen zum Vorschein, die sofort ihre Angst hintanstellten und nach eventuell Verletzten suchten, andererseits erschraken die Ratten so, dass sie sich in Massen zum mittlerweile erheblich angewachsenen Lebensmittelberg unter dem S-Bahn-Bogen orientierten. Nur wenige Augenblicke später war der Spuk genauso plötzlich wieder vorbei, wie er gekommen war.
Der Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt war eine einzige Trümmerwüste, durch deren Mitte der aus Tischen improvisierte Fluchtweg verlief. Nach wie vor hörte man Menschen schreien, wenn auch lange nicht mehr so laut, viele weinten auch. Sirenen ertönten, von überall her. Feuerwehrleute, Polizisten und Rettungssanitäter rannten über den Platz. Ein paar hundert Ratten räuberten noch herum, trollten sich aber auch bald. Wildfremde Menschen kamen zu Georg und bedankten sich, bis tatsächlich jemand mit einem Mikrophon und einer Kamera vor ihm stand.
***
Nachdem er die Bilder vom Hackeschen Markt und das Interview mit diesem Kammerjäger häufig genug gesehen hatte, widmete er sich wieder der Live-Berichterstattung im Radio und seinem Computer. Es war zum Kotzen. Die Trulla vom Nachrichtensender hatte diesem Wolters sogar noch ein Kompliment für sein Hemd und seine gutsitzende Hose gemacht. Was, bitte schön, hatte das noch mit Journalismus zu tun? Was weiß dieser Schwachkopf denn schon von Ratten? Er, nur er, Ratmaster Big, hatte das Recht und die Kompetenz, Interviews zu geben! Das Netz war mittlerweile voll mit Bildern: Trotz Angst und Panik hatten einige Gäste den Rattenangriff mit dem Smartphone gefilmt. Dumm für die Geschäftstüchtigen unter ihnen, die das Ganze vielleicht gern an Sender oder Zeitungen verkauft hätten, dass die Routinierten ihre Bilder schon aus Gewohnheit bei Facebook, YouTube etc. gratis eingestellt hatten. Sah alles gar nicht schlecht aus. Gekreische und Gerenne, wie in diesen modernen Katastrophenfilmen, die aus Handkameraperspektive gedreht werden. Verwackelte Bilder, Ausfälle, dann und wann eine Ratte, die auf die Kamera zuspringt. Könnte man so direkt ins Kino bringen.
Der Platz sah aus, als sei ein Tornado darüber hinweggefegt. Normalerweise hätte ihm das alles sehr gefallen. Die Panikbilder, das Chaos, das Geschrei. Gutes Entertainment. Coole Scheiße. Allerdings verstand er nicht genau, was da passiert war. Das war inakzeptabel. Ein derartiger Angriff der Ratten war überhaupt nicht vorgesehen. Zumindest noch nicht. Er hasste es, wenn sich Dinge seiner Kontrolle entzogen. Das durfte er nicht dulden.
Waren es doch mehr Ratten, als er berechnet hatte? Wenn ja, wie viele mochten es sein? Er würde alles noch einmal genau durchkalkulieren müssen. Die Simulationen neu bewerten. Eine verfickte Arbeit. Jetzt hätte er sich gern beraten, aber es gab niemanden mehr. Erwin Machallik war tot. Die Söhne waren unfähig und ein neuer Gott der Ratten, dem er dienen konnte, nicht in Aussicht.
Dennoch konnte er nicht so tun, als sei nichts passiert. Es war etwas passiert, und es würde noch sehr viel mehr passieren. Er musste jetzt die Nerven behalten. Es würde nicht mehr lange dauern. Er durfte nur nicht die Kontrolle verlieren. Er hatte die Macht. Er war der Herr über die Ratten und das Schicksal der Stadt. Er hoffte nur, die Ratten wussten das auch.
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Dritter Tag
A m liebsten würde ich Ihnen eigenhändig in Ihre Rattenärsche treten!» Der Bürgermeister war gleich morgens ins Büro der Machalliks gekommen, um den Brüdern seine Beurteilung der Ereignisse der letzten Nacht darzulegen. «Bis auf den Mond würde ich Ihre Rattenärsche treten.»
Seine Beraterin Dr. Mierwald hätte ihm gern gesagt, dass bei der Wendung «in Ihre Rattenärsche treten» «eigenhändig» ein höchst unglückliches Adverb war, stellte diesen Einwand jedoch wegen Geringfügigkeit hintenan. Stattdessen versuchte sie, ihren Chef zu beruhigen. «Niemand ist ernsthaft zu Schaden gekommen. Eigentlich ist kaum etwas passiert.»
Der Regierende fuhr sie mit weit aufgerissenen Augen an. «Nichts passiert? Ich glaube, es hackt! Mehr als sechzig Verletzte. Davon viele mit Bisswunden, Rattenbisse wohlgemerkt! Der Stadt gehen die Tetanus-Impfvorräte aus.
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