Der König von Berlin (German Edition)
vergaß. Es passierten einfach zu viele.
Es gab gute Gründe, dem ehemaligen Hauptkommissar Rimschow einen Besuch abzustatten. Bei ihm liefen viele Fäden zusammen. Wahrscheinlich könnte er von Rimschow an einem Vormittag mehr erfahren, als er selbst in knapp zwei Monaten mühsam ermittelt hatte. Warum war er nicht schon früher auf die Idee gekommen, mit seinem Vorgänger zu reden? Es war doch logisch, dass der auf viele Fragen gestoßen sein musste, die Lanner auch beschäftigten. Aber offenbar hatte niemand Interesse daran gehabt, ihn auf diese Idee zu bringen. Außer Markowitz. Vielleicht gab es sogar Leute, die nicht wollten, dass er mit Rimschow redete. Insofern war es gut, inoffiziell unterwegs zu sein, also so inoffiziell, wie man in einem Streifenwagen eben unterwegs sein kann. Nur Markowitz wusste Bescheid. Sie würde ihm den Rücken freihalten, weshalb er ihr den Kaminski-Fall auch komplett übertragen hatte, fürs Erste jedenfalls.
Bei Königs Wusterhausen fuhr er von der Autobahn ab, folgte den Schildern und geriet somit auf den falschen Weg. Nach einigen Schlenkern und Umwegen durch Brandenburger Dörfer erreichte er aber doch irgendwann wie durch Zufall Klein Köris und kurze Zeit später auch Groß Köris. Die Seestraße, in der Rimschows Haus sein sollte, war leicht zu finden. Es gab ja nicht so viele Straßen im Ort. Die waren dafür ziemlich lang und die Seestraße aufgrund der unklar verlaufenden Seegrundstücke zudem recht unübersichtlich.
Nachdem er sie zweimal rauf- und runtergefahren war, beschloss Lanner, jemanden zu fragen. Das Restaurant mit dem bemerkenswerten Namen «Märkische Riviera» war geschlossen, daher sprach er die einzige Fußgängerin an, die er sah. Eine energisch schreitende, schlanke, mittelalte Frau, die allerdings nicht gewillt war, ihr Wissen kampflos preiszugeben: «Was wollen Se denn von dem?»
Lanner war ob der Gegenfrage ein wenig perplex. «Bitte?»
«Na, wieso wollen Se denn wissen, wo der wohnt?»
«Ach so. Na, wir … wir sind Freunde, und ich wollte den eben mal besuchen.»
«Soso, Freunde sind Se.» Sie schaute nachdenklich und amüsiert auf den Streifenwagen. «Wahrscheinlich ganz gute Freunde, wenn Se nicht mal wissen, wo der wohnt. Wieso rufen Se denn nicht einfach bei ihm an?»
Lanner konnte sich schon denken, was sie sagen würde, wenn er ihr auch noch gestehen musste, dass er nicht mal Rimschows Telefonnummer hatte. Er überlegte, ob er ihr vorschlagen sollte, sich als Pförtnerin im Präsidium zu bewerben. «Hören Sie, ich schulde ihm Geld und würde es Herrn Rimschow gern zurückgeben.»
Sie horchte auf. «Ach so, darum geht es. Na, das können Se einfach mir geben, ich mach ihm den Haushalt.»
Lanner schaute sie groß an.
Sie lachte laut auf. «Keene Angst, war ’n Scherz. Jetzt guck mal, wie er kiekt! Göttlich. Der Walter wohnt gleich hier, das dritte Haus, wenn Se beim ersten das Zählen anfangen. Sonst isses das zweite. Da, wo das Gartentor offen steht. Können Se einfach durchgehen, der steht bestimmt am See, tut er immer um die Zeit.»
Lanner bedankte sich, doch die Frau war noch nicht fertig. «Und machen Se sich keene Gedanken, hier können Se überall parken, hier fotografiert Se keener.»
Er sank in sich zusammen. «Sie lesen hier also auch noch Berliner Zeitungen?»
«Nee, Quatsch. Wozu? Aber die wichtigsten Neuigkeiten schau ich mir morgens immer im Internet an. Lässt der Walter mich machen, ich mach dem nämlich wirklich die Küche.»
Lanner ging links am Haus vorbei, durch den großen Garten bis zu einer Baumreihe, hinter der der Steg begann. Von weitem schon sah er Rimschow auf einer Bank sitzen. Er staunte, wie großzügig das Seegrundstück war. Hätte er Rimschow gefragt, wie er sich das leisten konnte, hätte er allerdings erfahren, dass solche Grundstücke noch Ende der neunziger Jahre recht preiswert zu kriegen waren.
Als Lanner etwa zwanzig Meter entfernt war, blieb er stehen und machte sich bemerkbar: «Hallo! Herr Rimschow!»
Rimschow rührte sich nicht. Lanner wartete ein paar Sekunden und ging dann weiter.
Plötzlich bewegte sich Rimschow, drehte sich aber nicht um, wie Lanner zunächst vermutet hatte, sondern nahm nur einen Stein aus dem Körbchen neben sich und schleuderte ihn aus dem Handgelenk über das Wasser. Er sprang zweimal auf, bevor er versank.
«Guten Tag, ich bin Hauptkommissar Lanner, Ihr Nachfolger.»
Rimschow schaute ihn immer noch nicht an, er starrte weiter auf den See hinaus.
Weitere Kostenlose Bücher