Der König von Berlin (German Edition)
übersprungen. Markowitz ging zur Tür und rief: «Wer ist da?»
Stille. Dann klingelte es wieder, gleichzeitig schrie jemand: «Aufmachen! Schnell! Schnell! Aufmachen! Sie müssen sofort kommen! Sofort!»
«Wer sind Sie?»
Die Stimme wurde schriller und verzweifelter, war kaum mehr zu verstehen. Trotzdem meinte Markowitz, weiterhin ein befehlendes «Aufmachen!» zu hören. Sie zog ihre Pistole aus dem Halfter, entsicherte sie, trat einen Schritt zur Seite und drehte dann mit langem Arm langsam die Schlösser auf. Als sie auf die Klinke schlug und die Tür aufsprang, erblickte sie zu ihrer Überraschung einen verzweifelten, untersetzten, sehr, sehr blassen, schwarzhaarigen jungen Mann in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt. Sein rötlich-blonder Stoppelflaum verriet, dass die Haare gefärbt waren. Abgesehen davon sah Carola Markowitz sofort: Dieser junge Mann war entweder extrem uneitel oder extrem ungeschickt, was sein äußeres Erscheinungsbild betraf.
Er hatte Schweißflecken unter den Achseln, starrte Markowitz mit weit aufgerissenen Augen an und brüllte: «Sie sind eine Frau!»
Markowitz sah, dass er am ganzen Körper zitterte, vor Unsicherheit, vielleicht auch vor Angst. Trotz der außergewöhnlichen Anspannung wirkte er keineswegs bedrohlich. Dennoch hielt sie ihre Waffe erst mal in Bereitschaft.
«Wolters!», schrie er, «ich suche Georg Wolters!»
Markowitz wollte ihn beruhigen. «Er ist nicht da. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»
Eine Sekunde lang schien ihr kalkweißes Gegenüber zu überlegen, dann begann er zu weinen und bettelte sie verzweifelt um Hilfe an. Sie erklärte sich bereit, ihm zur Wohnung im Parterre zu folgen. Der pummelige, etwas ungelenke Mensch düste sofort los, im Laufschritt. Markowitz konnte noch schnell die Ersatzschlüssel zu Wolters’ Wohnung vom Schlüsselbrett fischen, die Waffe wegstecken und die Tür zuziehen, dann musste sie ihm schon hinterherlaufen.
Die Wohnung war erstaunlich groß. Der schwarzgekleidete, nach wie vor Rotz und Wasser absondernde Endzwanziger eilte durch den Flur und öffnete an dessen Ende eine schwere Holztür. Sie war der Zugang zu einer anderen Welt.
Eine Treppe von achtzehn breiten Stufen führte hinunter ins Souterrain – in eine zweite, noch viel größere Wohnung. Carola Markowitz blickte in ein riesiges Zimmer mit wohl fünf Meter hohen Decken. Eine Art Souterrain-Loft, von dem noch einmal Türen abgingen. In gigantischen Metallregalen lagerten Videos, DVDs, Schallplatten, CDs, jede Menge Technikkram, außerdem sehr viele Bücher und Comics. Auf mehreren Tischen standen Computer, an den Wänden hingen drei gewaltige Flachbildschirme. Alles farblich fein abgestimmt in Schwarz, Schwarz und noch mal Schwarz. Was nicht schwarz war, war Metall. Die einzige Ausnahme bildete ein Holztisch. Die hohen Fenster waren nicht zu sehen, sie lagen versteckt hinter schweren Vorhängen. Es sah aus wie das grotesk überdimensionierte Jugendzimmer eines Nerds.
Mittendrin, in einem von zwei gleichfalls absurd klobigen, schwarzledernen Schreibtischsesseln, saß eine alte Frau, streckte die Beine von sich, zappelte ein wenig, ruderte einmal mit dem Arm – sie kämpfte verzweifelt mit ihrer Atmung. Röchelnd und voller Panik starrte sie auf Markowitz. Die erblickte die beiden Teller auf dem unpassend hellen Esstisch aus Kiefer und begriff, was Sache war. Sie stürmte die Stufen hinab, riss die Frau hoch, umfasste den massigen Körper und drückte schnell, beherzt und gezielt zu. Der Heimlich-Griff. Die Frau prustete, ein zweites Drücken – und in hohem Bogen flog ein Stückchen Fleisch durch die Luft und landete mit einem leisen Platscher in einem der beiden halbvollen Cola-Gläser auf dem Tisch.
Frau Adler hustete und röchelte noch ein wenig, dann beruhigte sie sich, und die tiefe Röte in ihrem Gesicht machte einem erleichterten Lächeln Platz. Der Junge sah fasziniert auf das Stückchen Fleisch, das in seinem Glas schwamm. Er weinte nicht mehr, und als er sich vom Cola-Glas lösen konnte, gelang es ihm auch, normal zu sprechen. «Alles in Ordnung, Mama? Geht es wieder?»
Frau Adler nickte ihm sanftmütig zu, dann wandte sie sich zu Markowitz: «Junge Frau, ich glaube, Sie haben mir soeben das Leben gerettet. Zum Dank gewähre ich Ihnen die Hand meines Erstgeborenen.»
Majestätisch wies sie auf ihren Sohn, der entsetzt zunächst seine Mutter, dann Markowitz, dann wieder seine Mutter anstarrte. Als das erst kaum merkliche Grinsen in deren Gesicht
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