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Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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Sekunden. Dann sah er sich um. Er wurde die Angst nicht los, dass man hinter ihm her war. Doch da war niemand weit und breit. Kurz darauf schlief er ein.

 
     
     
     
     
     
    Am nächsten Morgen stand er auf und zog seine zerlumpte, immer noch feuchte Kleidung an. Ziellos brach er auf, den Heiligen in der Hand. Er hatte keine Eile und vertrieb sich die Zeit damit, den Arbeitern, die in der Fabrik ein- und ausgingen, den Frauen und einigen Staplern, die Kisten mit tiefgefrorenem Fisch ausluden, seelenruhig zuzusehen. Mit seinem Heiligen in der Hand trat er näher heran. Niemand gab ihm einen Centavo. Der eine oder andere raunte ihm verschmitzt zu: »Los, beweg deinen Arsch und steh nicht blöd rum.« Einer der schwarzen Stapler kam auf ihn zu und befühlte seine Armmuskeln.
    »Du hast zwar kaum was auf den Rippen, aber Kraft. Los, hier werden Stapler gesucht. Lass das mit dem Heiligen.«
    Rey ging weg und antwortete nicht. Der schwarze Hüne spottete weiter.
    »Ist das nun ein Idiot, oder tut der nur so?«, wandte er sich an einen seiner Kollegen.
    Rey ging weiter seiner Wege. »Was für eine Scheißarbeit, die kann er sich sonst wohin stecken. Ich werde nie wieder in meinem Leben arbeiten«, dachte er.
    Eine Stunde später kam er nach Regla. Am Anleger blieb er vor der kleinen Fähre stehen, und ohne darüber nachzudenken, aus einem Impuls heraus, bezahlte er mit einem Geldstück und ging an Bord. Zum ersten Mal fuhr er Boot. Das machte ihm ein wenig Angst. Die Fähre füllte sich mit Passagieren. Rey dachte, sie würde direkt nach Havanna fahren. Aber nein, sie fuhr bis zur Ausfahrt der Bucht, drehte nach rechts ab und hielt in Casablanca. Dort stieg Rey aus. Ein paar wenige stiegen aus, andere stiegen ein, und die Fähre legte erneut ab, überquerte die Bucht und legte drüben in Havanna an. Rey folgte ihr mit den Augen. Das Bootfahren gefiel ihm. Er hatte Angst davor, nach Havanna zu fahren. Er war vor vielen Tagen aus der Besserungsanstalt geflohen. Sie würden ihn schon nicht suchen, aber verlassen konnte er sich darauf nicht. In Casablanca gab man ihm Almosen. Viele Leute warteten dort auf die elektrische Bahn aus Hersey. In dem Moment traf die alte Lokomotive mit ihren rustikalen Waggons ein. Sie unternahm eine sehr langsame Reise nach Matanzas. Eine Frau sagte zu einem kleinen Mädchen: »Du wirst sehen, was für eine schöne Fahrt über Land wir machen.« Das einzige Land, das Rey kannte, waren die Orangenhaine der Besserungsanstalt, und die gefielen ihm überhaupt nicht. Für ihn bedeuteten sie Sonne, Arbeit, wilde Ameisen, Dornen und Schrammen, Hunger den ganzen Tag. »Sollte es etwa noch eine andere Art Land geben? Das glaube ich nicht«, dachte er. Er war versucht, in den Zug einzusteigen und nach Matanzas zu fahren. Nein. Er verwarf die Idee wieder. Er ging mit seinem Heiligen weiter, überquerte ein paar Straßen, erklomm einen Abhang, schlug einen zugewucherten Lehmpfad ein und gelangte zu der riesigen weißen Statue des Cristo de Casablanca. »Die Leute bauen Puppen und stellen sie überall auf. Wie haben sie die bloß so groß hingekriegt?«, überlegte er.
    Im näheren Umkreis war niemand zu sehen. Man konnte von hier aus die ganze Bucht herrlich überblicken. Die Höhe war genau richtig. Es gefiel ihm, alles unter sich zu haben, jedenfalls so. Ganz allein stand er hier oben und war der große Beobachter. Er fühlte sich mächtig. Mit dem Auge umfasste er alle Molen, die Schiffe, die winzigen Menschen, die hin und her liefen, die Lastwagen, die kleinen Fischerboote, die vielen Spaziergänger auf dem Malecón und die Stadt dahinter. Die riesige Stadt, die sich in der Ferne zwischen feuchtem Dunst und blendendem Sonnenlicht verlor. Zur Rechten die hohen, verfallenen Gebäude des Viertels, in dem er aufgewachsen war. Zentral-Havanna war immer noch so schön und welk und wartete darauf, geschminkt zu werden. Unbewusst suchte sein Blick ein bestimmtes Gebäude, einen Punkt ein Stückchen weiter landeinwärts. Etwa hundert Meter vom Malecón. Dort war seine Dachterrasse. Noch war sie nicht eingestürzt. Das Herz schlug ihm immer heftiger und drohte ihm fast die Brust zu sprengen. Plötzlich kamen ihm alle Erinnerungen auf einmal: an seine dumme, verblödete Mutter; aber sie war seine Mutter, und er liebte sie trotz allem. An seinen Bruder, der außer sich geraten war und sich blindlings auf die Straße gestürzt hatte, an seine Großmutter, die all das nicht ertragen hatte, und an sich selbst, wie er

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