Der König von Havanna
manchmal kommen die Probleme von selbst. Sie fallen geradezu vom Himmel. Einfach so, ohne jeden Grund. Ohne dass man sie gesucht hat.
Auf alle Fälle beschloss er hinüberzufahren. Doch es ist eine Sache, zu beschließen, über die Bucht zu fahren, und eine andere, es wirklich zu tun. Er kehrte in seinen alten Container zurück, wo er sich sicher und von der Einsamkeit geschützt fühlte.
Dort verbrachte er mehrere Tage und Nächte. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sich nicht entscheiden. Bis jetzt hatten immer andere für ihn entschieden. Eines Abends ging er hinunter an die Mole. Er legte dem Kassierer das Kleingeld auf die Hand und bestieg die Fähre. Ein anderer Kerl machte ihm Konkurrenz: Ein alter, magerer Schwarzer mit geschorenem Kopf und voller Tätowierungen spielte unablässig auf einer kleinen Trommel. Es war eine durchgehende Show. Der Typ machte keine Pause. Für das Geld hatte er eine Mütze hingelegt, und ein paar Touristen schossen Fotos von ihm. Einige von ihnen traten näher heran, um sich die hundert Tätowierungen auf seinem Körper anzusehen. Er zog sich das Hemd aus und hob die Hosen ein wenig an, damit man sie sehen konnte. Er war ein netter Schwarzer. Lächelnd schlug er die Trommel, zog Grimassen und lächelte wieder. Die Leute schauten ihm zu und amüsierten sich, aber niemand gab ihm auch nur einen Centavo. In wenigen Minuten hatten sie die Bucht überquert, und ehe er sichs versah, ging Rey die Avenida del Puerto entlang.
Es war sieben Uhr abends, doch die Sonne war noch hoch und stark. Er schlenderte langsam vor sich hin, kam vor dem Hotel Deauville an und setzte sich einen Moment auf die Mauer, um auszuruhen. Es waren nur wenig Leute unterwegs. Abends war hier alles voll mit Nutten und Zuhältern, Transvestiten, Marihuanadealern, Leuten vom Land, die von nichts etwas mitbekamen. Wichser, Erdnussverkäufer, Stricher mit verschnittenem Rum und Tabak, echtem Kokain, junge, frisch aus den Provinzen importierte Huren, Straßenmusikanten mit Gitarren und Rasseln, Blumenverkäuferinnen, dreirädrige Fuhrwerke mit ihren vielfältigen Taxi-Transport-Aufgaben, Polizisten, Emigrantenanwärter. Zudem ein paar unglückliche Frauen, ein paar Alte, ein paar Kinder, die Ärmsten der Armen, die Tag für Tag unablässig um Kleingeld bitten. Wenn ein unvorsichtiger, melancholischer Tourist inmitten dieser nicht aggressiven, aber gerissenen und talentierten Fauna landet, tappt er im Allgemeinen fasziniert in die Falle. Schließlich kauft er beschissenen Rum oder Tabak und hält sich für originell, einen besonders gewitzten Typen und einen Glückspilz. Manchmal heiratet er Monate darauf eines der schönen jungen Mädchen oder hat eine Beziehung mit einem Stricher. Nach diesen Heldentaten versichert der Tourist seinen Freunden, er sei jetzt glücklich, das Leben in den Tropen herrlich, und er würde am liebsten sein Geld hier anlegen, ein Häuschen am Meer haben, zusammen mit seiner ergebenen, attraktiven kleinen Schwarzen, und Kälte, Schnee und die gebildeten, vorsichtigen, berechnenden und schweigsamen Menschen seines Landes hinter sich lassen. Kurz, er fällt in eine hypnotische Trance und tritt aus der Wirklichkeit heraus.
Jetzt hingegen waren nur zwei Schnapsbrüder da, die sich professionell unter der Sonne betranken. Er sah sie an und hielt ihnen den Heiligen entgegen: »Eine kleine Unterstützung für den Heiligen.«
»Weißt du was, ich werde dir geben, was ich in der Tasche habe. Mir ist sowieso alles egal. Das ist doch San Lázaro, oder? Ja, er ist’s.«
Der Säufer war ein Mann von ungefähr sechzig, übermäßig mager und trug ein fadenscheiniges, schmutziges Hemd, hatte aber immer noch etwas von einem anständigen, gebildeten Menschen an sich. Im Moment war er zu berauscht und konnte nicht gut sehen. Er zog ein paar Scheine aus der Tasche, ein paar Münzen, einen Schlüsselanhänger ohne Schlüssel und ließ alles in die Schachtel fallen.
Rey sagte kein Wort. Er hatte vor, so schnell wie möglich zu verschwinden, ehe der alte Säufer sein Geld wieder an sich nahm. Aber der andere Schnapsbruder packte ihn beim Arm und ließ ihn nicht gehen. Er war ein schmieriger, vulgärer Typ: »He, nicht so schnell, warte mal … Wohin gehst du? Und wovon sollen wir denn die nächste Flasche kaufen? Hast du ihm das ganze Geld gegeben?«
»Ja, aber es ist mein Geld. Was geht dich das an?«
»Schon gut … stimmt, es ist dein Geld.«
»Ich kann nichts mehr trinken.
Weitere Kostenlose Bücher