Der König Von Korsika
dem Regen finden.
Von dort blickte er zurück auf die regenschwarze Backsteinmauer des Gefängnisses. Es war keiner gekommen.
Neuhoff hatte der Beamte ihn abschätzig genannt. Nicht Sir , nicht Baron , nicht Majestät . Einfach Neuhoff .
Beamte sind immer ein gutes Barometer für unseren gesellschaftlichen Wert. Niemand hatte ihn abgeholt. Wie oft hatte er sich diesen Moment ausgemalt seit der ersten Nacht in seiner Zelle: Die zwölfspännige Equipage seines Cousins, des Königs von England, er roch den Duft nach Parfum und Puder unter dem tressenbesetzten Dreispitz, den er getragen hätte, und das begeisterte Volk stand Spalier. Oder das gebildete London unter Führung Walpoles hatte eine Debatte im Parlament erwirkt. Freiheit für den König von Korsika, und eine Abordnung vivatrufender Gentlemen holte ihn vor den Toren dieses lächerlichen Baus ab, der ihn nicht hatte halten können. Oder Garricks Stück hatte das Volk begeistert, das seinen Namen skandierend, am Tor rüttelte, bis der Gnadenerlaß kam, und ihn dann auf den Schultern durch die Stadt trug.
Später waren die Entlassungen stiller geworden, diskreter, ein Unterzeichnen von Papieren, ein Aushändigen von Visa und Kreditbriefen, eine Stimmung ernster Ehrerbietung oder schweigsamer Höflichkeit. Und seine Phantasie war, wie üblich, den Tatsachen um zwei Dimensionen der Konditionalform voraus. Er hatte zwar die große Politik nicht mehr verfolgt, aber irgendein Reich würde er schon zum Verbündeten seiner Sache machen können. Nie hatte er sich so sehr als König gefühlt, nie so sehr verpflichtet, seine Berufung zu erfüllen und die heillosen Korsen zu befreien, wie seit er hierzulande festsaß.
Nun gut, es war anders gekommen. Auch die Korsen hatten niemanden geschickt, ihn zu empfangen, aber sie waren seit jeher wie die Hunde demjenigen hinterhergelaufen, der den größten Knochen schwenkte.
Der einzige Freund, der ihm einfiel, war Walpole, den offenbar niemand von seiner Entlassung in Kenntnis gesetzt hatte. Bei ihm würde er Kräfte schöpfen und sich wieder
in einen Menschen zurückverwandeln können. Er erinnerte sich dunkel, wo seine Stadtwohnung lag, auch wenn er sie seinerzeit nie zu Fuß hatte aufsuchen müssen.
Die ersten Minuten des Gehens waren eine ausschließlich innere Erfahrung, zu der die Stadt nur die Gitterstäbe des Laufstalls bereitstellte, bis zu denen der Neugeborene sich vorantastete. Du bist König von Korsika, du gehst jetzt bis zu diesem Gesims. Du bist Theodor Neuhoff, du bist es dir schuldig, diese Kreuzung bis zu dem regennassen Backsteinhaus zu überqueren.
Eine Sekunde lang riß die Wolkendecke auf, und ein Lichtfächer fiel flach wie eine Rampe in die Straßenschlucht. Die Regentropfen glitzerten wie aufgewirbelter Silberstaub, ein vielleicht nur vorgestellter Hauch von Wärme streifte seine Wange. Er blieb stehen, das Phänomen war bereits wieder zuende.
Die Stadt, durch deren Labyrinth er sich tastete und die in der Sonnensekunde etwas Lebendiges gewesen war, wandelte sich zu einer abstrakten, dreidimensionalen Projektion mit Kuben, Pyramiden, Kegelstümpfen. Achsen liefen auf Fluchtpunkte zu, Vektoren pfeilten kometenartig ins Gesichtsfeld und bohrten sich in verschiedene Richtungen, deren Winkel zueinander keine Harmonie besaßen. Können Sie mir bis hierher folgen, Baron? fragte De Broglie. Theodor schüttelte beschämt den schweißnassen Kopf. Appliquez-vous, Baron! Ich habe meinen Zirkel vergessen, flüsterte der Knabe und riß die Augen auf, aber die straffen Linien erschlafften zu Kurven, rollten sich zu Spiralen ein, bauchten aus und sackten in sich zusammen. Er erinnerte sich, die Tür nicht geschlossen zu haben, so daß die jungen Kätzchen bestimmt aus dem Haus gelaufen waren. Wie sollte er sie jetzt finden, und wenn er eines erwischte, mußte er es mit sich tragen, während er die anderen suchte, und es würde sich losreißen und endgültig verloren gehen. Larbi, ich kann die Gleichung nicht lösen, sagte er zu seinem
Diener, der eine bräunliche wollene djellabah und auf dem Kopf einen schwarzen, hohen Zylinder trug, mit dem er größer war als sein Herr. Er hatte sich ein Bärtchen stehen lassen, das sich wie ein feiner Mohnkranz um seine fleischigen Lippen rankte. Zu mir, ihr fröhlichen Trinker , rief er, ihr jungen Hunde, steht auf! Kommt, leeren wir noch ein letztes Glas. Unser Schicksal nähert sich mit großen Schritten. Der letzte Kelch ist nah . Warum rennst du so, Larbi? Aber Eure
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