Der König Von Korsika
Womöglich würde er sich im Regen in seine Bestandteile auflösen.
Er schüttelte den Arm des Wärters ab, seine Knie gaben einen Moment lang nach, dann stand er fest und machte zwei Schritte auf dem Kopfsteinpflaster des Innenhofs. Er nahm den Hut ab und legte den Kopf in den Nacken.
Der Himmel hat sich nicht geändert, dachte er. Es war ein Londoner Herbsthimmel, bleigrau und glatt wie die alchimistische Suppe, in der er seinerzeit gerührt hatte, um Gold daraus zu seihen.
Der Griff des Wärters, der sich lange genug geduldet hatte, kam nicht ungelegen, denn die Kälte ließ seine Glieder verkrampfen, und seine Beine fühlten sich an wie die einer Marionette an den Fingern eines müden Spielers.
Er trug dieselbe Kleidung wie bei seiner Einlieferung. Den schwarzen Dreispitz, die schwarze houppelande , die dunkelbraunen wildledernen Bundhosen, die weißen Seidenstrümpfe, die Schnallenschuhe, ein weißes Hemd und das wollene justaucorps . Die Jahre der Gefangenschaft waren
den Sachen nicht gut bekommen, obwohl sie trockener gelagert hatten als er selbst. Pelerine und Jackett hatten Mottenlöcher, durch die der Regen bis auf die Haut drang. Die Seidenstrümpfe waren so dünn geworden, als trüge er Spinnweben um die Waden.
Vor der Pförtnerloge wartete im Mauerschatten eine hochgewachsene Gestalt auf ihn. Sobald seine Augen sich an den Dämmer der Tordurchfahrt gewöhnt hatten, sah er, daß der Mann kleiner war als er selbst, aber einen schwarzen Zylinder trug. Er hielt ein Buch in der Hand und eine Feder.
Alles im Stehen, dachte Theodor. Jetzt kann es ihnen plötzlich nicht mehr schnell genug gehen. Er mußte unterschreiben, seinen gesamten persönlichen Besitz in Empfang genommen zu haben und keinerlei Regreßansprüche zu erheben. Er unterschrieb mit »Theodorus Rex« und verbot mit einem endgültigen Blick dem geöffneten Knochenmund des Notars, auf dessen Oberkiefer kein Zahnfleisch zu wachsen schien und dessen gelben Zähne sich verjüngten und im Knochen verschwanden, seine Kommentare.
Sie sind frei, Neuhoff. Gehen Sie mit Gott.
Er mußte schmunzeln. Seine Haut war so kältestarr, daß die Mimik wie durch eine sein Gesicht umschließende Lehmkruste brach. Der Wächter, der ihn aus seiner Zelle geführt hatte, trat beiseite. Mühevoll schritt der König vorwärts. Alles, worauf es im Leben ankam, war vor diesen beiden Männern, einem Gefängnisbeamten und einem Wärter, jetzt weder zu straucheln noch zu stolpern, noch einfach, was das Natürlichste schien angesichts der ungeheuren Müdigkeit, die jeder Atemzug noch vertiefte, als sei die neblige Luft ein äthergetränktes Tuch, lang hinzuschlagen, als fiele er ins Wasser oder in ein Bett, und zu schlafen.
Jeder der vielleicht zehn ihrem Blick ausgesetzten Schritte mußte gelingen. Schreite, dachte er, schreite. Kopf hochhalten.
Würde zeigen. Ins Weite blicken. Lippen zusammenpressen. Hände auf den Rücken, nein, dann falle ich vornüber.
Nach sechs Schritten war er am Tor. Er blieb stehen, schob die Hand in die Tasche seines justaucorps , so beiläufig, daß er, fände er dort nichts, sie unbemerkt würde herausziehen können. Aber seine klammen Finger berührten eine Münze.
Er wandte den Kopf dem Mann an der Eichenpforte zu, die als Tür für Fußgänger in das große Tor eingelassen war. Er hatte das Gefühl, eine Mechanik aus Zahnrädern und Flaschenzügen bedienen zu müssen, damit sein Kopf die Vierteldrehung vollführte: Hier, für die Mühe.
Er schnippte die Münze in die Luft. Der Wärter sah sie verblüfft fliegen, dann schnappte seine Hand zu wie ein Froschmaul, das eine Fliege schluckt. Danke, Sir! Vergelt’s Gott!
Schon besser, dachte Theodor und schritt voran, bis er die Gefängnistür einrasten hörte. Dann verließ ihn die Kraft, und er lehnte sich gegen eine Mauer wie ein müder Karrengaul. Er versuchte, regelmäßig und tief zu atmen, aber es drang nicht genügend Luft in seine Lungen. Müdigkeit und Schwäche schienen die Achse der Welt zu verdrehen.
Er versuchte sich zu konzentrieren und feste Gedanken zu formen, aber er brachte sie nicht über ein gallertiges Anfangsstadium hinaus und hatte den Eindruck, der Regen wasche sie von ihm ab und spüle sie in den Rinnstein, bevor er Zeit gehabt hatte, eine Schale um sie zu bilden.
War er einen Augenblick eingenickt? Das Gefühl, aus dem Schlaf zu fahren, erschreckte ihn derart, daß er sich wieder ganz aufrichten konnte, die Straße überqueren und unter einer Arkade Schutz vor
Weitere Kostenlose Bücher