Der König Von Korsika
machte, war seine Zufälligkeit. Ein Sonnenaufgang war nicht das Ergebnis einer Gleichung, sondern eine Gnade, und jeder einzelne erschütterte sein dankbares Herz, weil er überzeugt war, die Sonne könne ebensogut nicht aufgehen. Er brauchte die Hoffnung, die Bangigkeit, um dann die Freude empfinden zu können. Sich nicht auf den Sonnenaufgang zu verlassen, der genausogut ausbleiben konnte, das war Logik, so wie Theodor sie verstand.
Er war unfähig, sich so lange zu sammeln, daß er einer einzigen Beweisführung seines Präzeptors bis zum Ende hätte folgen können. Ein vorzeitiges geistiges Ausatmen setzte seinen Bemühungen regelmäßig ein Ende, als versuche er, mit angehaltenem Atem einmal ums Haus zu laufen, um nach drei Seiten japsend aufzugeben. Ich will doch nicht sterben! empörte er sich dann, als sei das Nachdenken eine subtile Form des Suizids, in den man ihn treiben wollte.
Kaum begann seine Konzentration von den Rändern her zu zerfransen, floh er in Selbstgespräche, in denen er ein großer Mathematiker war und verlor darüber den Faden von De Broglies geduldigen Erläuterungen. Wie sollte er leben, wenn er nicht in jedem Belang der war, als den seine Mutter ihn beschrieben hatte – diese Frage wandelte sich zu: Wo sollte er sich vor dieser Erkenntnis verbergen? Das einzige Exil, das sich anbot, waren seine Wachträume.
Können Sie mir bis hierher folgen, Theodor? Er schauderte vor verletzter Würde. So dumm erschien er bereits, daß er nicht mehr der Herr Baron war, sondern nur noch Theodor. Er schüttelte zähneknirschend den Kopf, wieder einmal hatte er nicht hingehört. Diesmal nahm er sich zusammen und lauschte Wort für Wort, wie der wacklige Turm der Logik sich vor ihm aufbaute. Ab der fünften Etage verschwand er in den Wolken, und als Theodor innehielt, um sich wenigstens des Fundaments zu vergewissern, brach alles zusammen und er in Tränen aus.
Die einzige schwache Hoffnung bestand darin, einmal in so schreckliche Schicksalsstürme zu geraten, daß er in seiner existentiellen Not all diese Dinge vollständig und für immer vergessen würde, um nach dem Ende der Gefahr wieder so unbeschwert weiterzuleben wie zu der Zeit, bevor sie begonnen hatten, ihm sein Leben zu vergällen.
Warum war sein Geist des tollsten Unfugs fähig, wußte er zum Beispiel intuitiv, wie ein italienisches Wort, das er nie zuvor gehört hatte, ausgesprochen werden mußte? Reviviscenza zum Beispiel oder spidocchiare oder dapocaggine – er brauchte nicht einmal zu ahnen, was es bedeutete, und untermalte es sogar mit expressiven Gesten, die De Broglie zwar als singeries mißbilligte, die aber wiederum Lorenzini so entzückten, daß er sich vor Rührung und Heimweh die Fingerspitzen küßte.
Sobald es jedoch um das abstrakte, analytische Denken ging, wo es mit Improvisation, Schäkern mit dem Zufall und menschlicher Unwägbarkeit zuende war, wo es keinen Klang und kein Bild mehr gab, erblindete Theodor geistig.
Na schön, genug für heute, Baron. – Und wie resigniert klang jetzt das Wort Baron. Es war noch erniedrigender als das »Theodor« von vorhin. – Versuchen wir’s morgen wieder.
Theodor nickte und schwor sich, den Stoff abends und nachts und am kommenden Vormittag noch einmal durchzugehen, und das so lange, bis er verstanden hatte, und tatsächlich beugte er sich nach dem Abendessen über das leblose Muster der Buchstaben, die keine sprechbare Sprache formten, der Linien, die keine schöne Zeichnung ergaben, aber sogleich verschwamm alles vor seinen Augen, er hörte sich mit Fermat über den Satz streiten, den eigentlich er aufgestellt hatte – es war harte Arbeit, erklärte er dem Mathematiker, reden wir jetzt lieber von heitereren Dingen -, und seine Lider wurden schwer. Er schwor sich noch: Morgen, morgen gewiß, aber am nächsten Morgen
schien die Sonne, und er floh in den Garten, dessen Schönheiten er aufgrund seines schlechten Gewissens noch deutlicher wahrnahm als sonst. Ja, Willenskraft und Disziplin hätte er benötigt, aber wer weiß, dachte er, das sind Dinge, von denen man nur ein gewisses Quantum in sich hat, und das sollte man besser für Wichtigeres aufheben als für die Mathematik.
Seine Mutter ignorierte die Katastrophe seiner Beschränktheit in der bewährten Manier. Zunächst war Theodor enttäuscht, daß sie den niederen Tendenzen in ihm so entgegenkam. Er hatte gehofft, sie werde ihn schelten und ihn zwingen zu lernen, notfalls mit der Peitsche – das heißt, eigentlich
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