Der König Von Korsika
Daß solche Widerstände normal waren, ja, daß das Leben womöglich überhaupt erst beginnt, wenn man mit ihnen ringt und einige überwindet, davon ahnte er nichts. Er fühlte sich betrogen und persönlich beleidigt. Seine Überzeugung war, daß ein jeder komplett geboren wird und nichts lernen kann, was nicht ohnehin schon, von Natur aus, in ihm steckt. Jede Form von Studium war daher eher ein Wachrufen in seinem Innern schlummernden Wissens, und die einzig schwierige Aufgabe für die Zukunft nicht, mit etwas Wesensfremdem zu ringen, sondern es ignorieren zu lernen.
Nein, ein Kämpfer war der junge Theodor nicht! Lorenzini zum Beispiel, der von Mortagne engagierte Maître d’Armes , hatte noch größere Mühe als De Broglie, dem halbwüchsigen Baron seine Künste nahezubringen. Theodor begnügte sich offenkundig damit, die Handhabung des
Degens, das En-Garde, das Fallen in Sixt-, Quart-, Oktav-und Prim-Einladung, die er aufgrund der ungeheuer hochnäsigen, herablassenden Armhaltung am liebsten hatte, ästhetisch beeindruckend zu markieren, ein Gentleman und Fechtmeister vom Scheitel bis zur Sohle, aber sein nicht eben muskulöser Arm hielt die Waffe so schlaff, daß jede Battuta, ja schon fast jede Bindung sie ihm aus der Hand schlug.
Mà...! rief Lorenzini mit klaffendem Mund und schüttelte verzweifelt die freie Hand, deren Finger wie ein geschlossener Blütenkelch im Wind schwankten, Sie spielen ja nur, Baron! Sie sollen die Bewegung nicht spielen, Sie sollen sie ausführen! Der Italiener wirkte bei diesen Worten so sehr wie ein Mime der Commedia dell’Arte, daß Theodor innerlich laut auflachte. Dann jedoch quiekte er wie ein Ferkel, als die Waffe des andern im Ausfall die seine beiseite fegte und die korkgeschützte Degenspitze seinen weichen Bauch traf.
Mà què, Baron! Appliquez-vous!
Dies war nun genau ein Problem Theodors: sich anzustrengen, sich zu konzentrieren und bei einer Sache zu bleiben. Tatsächlich spielte er die Einladungen, ja, die Fechterei überhaupt, aber nicht, wie Maître Lorenzini glaubte, weil er sie nicht mochte oder nicht ernst nahm, im Gegenteil: Gerade bei dem, was ihm wichtig war, kam es ihm vor allem auf die jedermann sichtbare Leichtigkeit der schönen Geste an.
Meistens eilten seine Gedanken voraus oder trödelten hinterher, ein Flimmern und Verschwimmen seiner Konzentration setzte ein, er durchquerte eine Nebelbank, befreite sich von den Ariadnefesseln der Logik und ersetzte sie durch die vergoldeten Zierbändchen seiner Phantasie.
Führte De Broglie in die Philosophie ein, so wollte Theodor, der sehr viel unkonzentrierter lauschte als seine Schwester, gleich viel lieber etwas über die Menschen hören,
die solch große Gedanken geäußert hatten, und wissen, wozu sie ihnen denn im täglichen Leben gedient hätten. Nach drei, vier Sätzen steckte er bereits in der Haut eines Sokrates und diskutierte, während des Meisters weitere Ausführungen ungehört an ihm vorüberrauschten, in der Akademie, verteidigte sich wortgewandt, lachte des Giftes, litt unter seiner Frau, sonnte sich in der Bewunderung seiner Schüler und sprach die Weisheiten aus, die der kaum noch körperhafte De Broglie ihm soufflierte, wobei Präzision und Zusammenhang im rauschenden Innern seines Kopfes von der Bugwelle seiner Glorie zur Seite gepflügt wurden.
Die Mathematik, abstrakt wie sie war, bot solche Auswege nicht. Theodor mußte sich eingestehen, daß die Ars analytica, das Rechnen mit Buchstaben, die Grenze seines Verständnisses markierte.
Können Sie mir folgen, Baron?
Er schüttelte den Kopf. Er haßte Gleichungen, mit denen man nicht reden konnte und die sich in ihren dunklen Masken seinem Blick entzogen. Pascals Satz über die verlängerten Seiten eines Sechsecks – warum gerade eines Sechsecks? – in einem Kegelschnitt, deren jeweilige Schnittpunkte auf einer Geraden liegen – so what! Englisch lernte er leichter -, ließ nicht mit sich verhandeln. Er war im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlich. Und dergleichen schön finden zu können, verlieh auch De Broglie etwas Unmenschliches.
Was finden Sie denn schön, Herr Baron? fragte der Lehrer.
Den Sonnenaufgang zum Beispiel! rief Theodor und machte eine verzweifelte Handbewegung.
De Broglie frohlockte und holte zu Erklärungen über die mathematischen Bewegungsgesetze der Himmelskörper aus, vor denen Theodor die Ohren verschloß wie vor einer Blasphemie. Was den Sonnenaufgang jeden Morgen
zu etwas Besonderem und Wunderbarem
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