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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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hoffte er, sie werde ihn befähigen zu verstehen, statt dessen behandelte sie die Mathematik wie einen Gast, der sich danebenbenommen hat, sie verwies sie des Hauses.
    Dennoch tat Theodor sich schwer, die intellektuelle Erniedrigung zu verkraften. Er flüchtete sich in Schlaf und Fieber. Während dieser Krankheit oder Rekonvaleszenz lernte er den Grafen Mortagne näher kennen, der ihn jeden Tag an seinem Bett besuchte und den er zuvor nur ein-, zweimal gesehen hatte.
    In den halbe Stunden dauernden Gesprächen mit dem Gönner, der an seinem Bett saß, verstand Theodor zum ersten Mal, was Adel tatsächlich bedeutete. Amalias erziehendes Wort wurde Fleisch in der Person des Grafen. Der Junge beobachtete fasziniert und wie erleuchtet jede Geste, jede Äußerung dieses Mannes, bei dem auf wundersame Weise das Nebensächliche vom Wesentlichen geschieden war, das Tun vom Sein, und dieses Sein entfaltete sich zu voller Blüte, sobald der Graf den Mund öffnete.
    Alle Tätigkeit, die ihn ausmachte, lief wie abgesondert und von ganz alleine, ohne daß Mortagne selbst irgend etwas damit zu tun zu haben schien. Seine Kutsche fuhr, seine Bediensteten lasen ihm die Wünsche von den Augen ab, irgendwo in der Hauptstadt arbeiteten Sekretäre für
ihn, übte sein Amt sich aus, pflanzte sein Einfluß sich fort, irgendwo auf dem Land hielten helfende Hände sein Schloß instand, rodeten Holzfäller seine Wälder, säten und ernteten seine Bauern, ohne daß er auch nur in einem Augenblick den Eindruck erweckte, selbst mit Mühe und Anstrengung, mit Arbeit und Nachdenken in dieses Räderwerk eingreifen zu müssen. Nein, seine gesamte materielle Existenz lebte für sich, und der Graf war frei, seinem Adel zu leben.
    Und diesen Adel machten seine Worte aus. Sie waren einer Müdigkeit abgerungen, die nichts Persönliches hatte, denn Mortagne war ein alerter, weltgewandter Mann von eben vierzig Jahren. Es handelte sich um eine Müdigkeit der Jahrhunderte, die Last sekulären Weltwissens, das sich mit Vorliebe in Sentenzen kleidete, über Generationen angesammelt und jenen ennui verhindernd, den persönliche Meinungen, unhöflich, präpotent und zu einer Stellungnahme herausfordernd, wie sie von Natur aus sind, in einer Konversation hervorrufen.
    Denn, soviel begriff Theodor rasch, die Sprache, wenn sie durch einen Menschen von Adel gehandhabt wurde, diente weder dazu, irgendwelche Handlungen in Gang, und noch weniger, seine persönlichen Ansichten durchzusetzen, die Sprache war die höchstentwickelte Form der Innenarchitektur, sie machte leere Räume bewohnbar.
    Das erste Mal, als Mortagne an des kranken oder krank spielenden Theodors Bett saß, sagte er: Baron, es ist großer Seelen nicht würdig, ihre Verwirrungen publik zu machen. Und: Man muß die ernsten Probleme mit Leichtigkeit und die gewichtslosen mit Ernst angehen.
    Solche Sätze waren unpersönlich genug gehalten, daß Theodor sie nicht als Handlungsanweisungen mißverstand, sondern vielmehr als ein Angebot – weiterzusprechen. Es ging Mortagne nicht darum, Probleme zu wälzen und womöglich zu lösen – wie Gleichungen! – diese Sprache
diente dem Sprechen selbst. Wobei man keinesfalls auf die irrige Idee verfallen sollte, hier habe billige Konversation stattgefunden. Der materialistische Gedanke, Worte hätten nur einen Wert, wenn Ansichten, Erkenntnisse und Taten aus ihnen folgen, war der Mortagneschen Rhetorik fremd. Sie besaß ihre eigenen Regeln und Gesetze und glich eher der Musik.
    Wenn einer keinen Geschmack hat, sagte der Graf, ist Ehrlichkeit eine bedauerliche Eigenschaft. Und angesichts von Theodors derzeitiger Verzweiflung: Es ist Sache der Frauen zu trauern, Baron. Männer müssen sich erinnern.
    War also die Kunst der Unterhaltung und des Gesprächs, so wie Mortagne sie Theodor vorlebte, niemandes Magd, vor allem nicht die der Tat, so zeigte sich doch rasch, daß sie dreifache Kraft besaß: Sie bannte das Bewußtsein der Menschen wie das rote Tuch die Aufmerksamkeit des Kampfstiers, sie lenkte ab von dem, was war, aber eben, dank ihrer Macht, sogleich nicht mehr war, und sie vermochte zu steuern, sie lenkte den Kahn der Wahrnehmung in die gewünschte Richtung.
    Als Theodor das verstand, war er einen Schritt weiter als seine Mutter: Die Gegenwelt, die sie sich durch Leugnung der Realitäten geschaffen hatte, konnte mit Hilfe der Sprache zu einem angenehmen und bequemen Ort verschönt werden, an dem auch Dritte sich gerne aufhielten.
    Reüssieren ist häßlich.

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