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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Traditionen, dachte Theodor danach, so wenig achteten sie das Mysterium, das zwischen allem Lebenden wabert und sein Innerstes, seine Identität schützt – auch und gerade vor den eigenen Fragen.
    Die eigenen Fragen! In den Gesprächen, die er im Club de l’Entresol führte, mußte er feststellen, daß er eigentlich kaum je Fragen gestellt hatte, jedenfalls nicht solche von höherem Interesse.
    Die eine entscheidende, die zu stellen ihm nie in den Sinn gekommen war und die in der einen oder anderen Form jetzt alles durchdrang und zersetzte und in sämtlichen
Gewißheiten wütete wie der Schwamm in den Mauern, bestand aus einem einzigen einfachen Wort: Warum?
    Es stimmte schon, er nahm die Dinge wie unverrückbare Tatsachen, Gottes Werk, ob richtig oder falsch, angenehm oder unangenehm, es war eben so, und anstatt die Tatsachen auf ihre Festigkeit abzuklopfen, versuchte er, sich zwischen ihnen hindurchzulavieren. Sie zu analysieren, zu kritisieren, in Frage zu stellen, nach ihrem Ursprung, ihrer Rechtfertigung, ihrer Realität zu fragen und sie womöglich zu verändern – dieser Gedanke wäre ihm im Leben nicht gekommen. Es ist schon wahr, gestand er sich ein, mit Menschen allein von meinem Schlag säßen wir noch immer in Höhlen und heulten den Mond an – allerdings wäre es ohne Zweifel ein höchst melodisches Geheule.
    Einmal wurde er spitzfindig in diesen Tagen und sagte: Wenn man die Vollendung der Welt anzweifelt, das heißt Gottes Werk in Frage stellt, geschieht das nicht eher, um von dem Abgrund abzulenken, der uns selbst von unserer persönlichen Vollendung trennt?
    Um ihn herum wurde gelächelt – lautlos, aber doch spürbar für Theodor, und so entwürdigend, daß er beschloß, diese Menschen zu meiden. Es war das Lächeln derer, die ihre gemeinsame Vergangenheit stark macht, und jemand fragte ihn, was von einer persönlichen Vollendung zu halten sei, an der eine kritikable Welt und Gesellschaft neun Zehntel der Menschheit hindere, siehe die Steuerlasten auf dem dritten Stand, das Elend der Landbevölkerung, siehe die moralische Verkommenheit derer, deren Beruf es ist, zwischen Gott und uns zu vermitteln.
    Theodor war froh, als neue Aufträge und der Druck der Gläubiger ihn schließlich aus Paris vertrieben. Und doch vergaß er diese Erfahrung nicht, versuchte sich ihrer zu erwehren und seinen eigenen mäandernden Weg zu behaupten. Wie kommt es denn nur, fragte er sich, daß ich, der mehr von der Welt gesehen hat als sie alle zusammen, mich
von ihren Theoremen einschüchtern lasse? Dennoch nahm er sich in den folgenden zwei Jahren der Reise, der geheimen Geschäfte und Spionagedienste vor, den Ernst der Zersetzer, ihre bohrende Fragekultur zu beherzigen.
    Was bleibt zu sagen? Er beneidete sie. Er beneidete sie, wie er Mortagne, Sternhart oder Görtz beneidet hatte. Überwand sich auch zu lesen, viel zu lesen, aber dann erschlafften seine großen Vorsätze wieder, und er begnügte sich mit seinen Erinnerungen, Bildern und Anekdoten, denn im Jahr 1724 heiratete und verliebte er sich in Madrid, alles in kürzester Zeit, und was immer er in den Cafés von Paris gehört hatte, verschwand, als hätte er endgültig darüber gesiegt.

Neuntes Kapitel
    Theodor begann mit leidenschaftslosem Pflichtbewußtsein seine cour Jane Ormonds, einer irischen Hofdame der spanischen Königin.
    Er fühlte sich wie ein in die Provinz versetzter Beamter, dem ein Haus zur Verfügung gestellt wird, das er selbst weder ausgewählt noch gebaut hat und für dessen Reize – aber solche Häuser haben selten welche – er blind ist. Es ist zu groß und zugleich zu klein, mit fremden Möbeln vollgestellt, und die Aussicht wirkt abgestanden, weil schon zu viele Augen sie erblickt haben.
    Dabei konnte man nicht behaupten, Jane Ormond sei häßlich, ihr kleines herzförmiges Gesicht hätte durchaus verdient gehabt, attraktiv genannt zu werden, es war nur so, daß nie die Sonne darauf zu fallen schien, vor allem nicht die Sonne eines verliebten Blicks ihres Freiers. Und dann war sie kein junges Mädchen mehr. Sie war, und das schockierte Theodor doch erheblich, sogar ein Jahr älter als er.
    Sie blickte ihn, wenn er mit ihr durch die Madrider Parkanlagen spazierte und zerstreut Konversation machte, aus zugegeben großen, meeresgrünen Augen an, deren Reinheit allerdings durch einige winzige geplatzte Äderchen verunziert war, wie auch die Haut ihres Gesichts und Halses nicht so glatt und marmorn aussah, wie man sich das gewünscht

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