Der König Von Korsika
ihm gewachsen, den Kanonenkugeln, Bajonettstichen, dem Wundbrand und der Knochensäge des Regimentsmedikus war er entgangen, die scharfen Krummesser der Diebe und Mörder in nächtlichen Städten hatten andere durchbohrt, die Ratten in der Bastille nicht ihn zu fressen bekommen, die Folterbänke der Inquisition tränkte nicht sein Blut und sein Schweiß. Er hatte die Vergangenheit überstanden und hier in Berthelsdorf auch die Zukunft ihrer Gefahren beraubt, indem er sie, das wilde Tier seiner ewigen Hoffnungen kastrierend, zu beständiger Gegenwart zähmte.
Jetzt pendelte die Zeit ruhig hin und her, ihre Ausschläge waren überschaubar, und in ihrem ruhigen Zentrum stand er, Theodor Neuhoff, und führte ein kontemplatives Leben.
Es war eine Existenz, die an gewisse, zur Zeit seiner Jugend im Park von Versailles veranstaltete Aufführungen erinnerte, die lebenden Bilder, zu denen sich zur Verblüffung und ästhetischen Freude der Betrachter die umhergehenden oder -tanzenden Körper plötzlich, wie magnetisch zueinander gezogen, zusammenfanden, um eine von Gemälden oder Skulpturen bekannte mythologische Gruppe darzustellen.
Einige Sekunden lang verharrte ein solches Tableau in vollkommener Bewegungslosigkeit und Stille, kaum daß man sah, wie sich eine leise atmende Brust hob oder senkte; ein in der Grimasse eines Lächelns oder Schreies erstarrtes Gesicht verlor nach wenigen Augenblicken sein groteskes Aussehen, wenn einem, was unweigerlich geschah, die Verbindung zu der Person, die man kennen mochte, abhanden kam zugunsten der dargestellten Allegorie, und die Illusion, noch vergrößert durch das kaum merkliche Beben der Lebendigkeit, wurde zu einer Epiphanie, die man, eingebrannt in die Netzhaut, weiter mit sich trug, wenn der Zauberbann sich löste.
Theodor entwickelte sich zu einem Sammler solcher lebender Bilder seines eigenen Lebens.
Dazu gehörten natürlich die »Reisenden über dem Wind«, der erste Anblick der Kraniche samt dem Geruch nach Papier in seiner Studierstube, als er Janes Ausruf hörte, ihre gegen die Himmelshelligkeit zusammengekniffenen Augen, die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln, die panisch huschende Katze, der Geruch nach Metall und Schmierfett seines Zugfernrohrs, die graubraune aufgepflügte Oktobererde, die mit in die Hüften gestemmten hornigen Händen in die Höhe blickenden Bauern in ihren Holzpantinen
und braunen Joppen, der gleichgültige Ochse im Joch, der Blick auf das Zinzendorf’sche Anwesen, über das die Vögel hinwegzogen.
Ein anderes dieser lebenden Bilder war eine Opernaufführung in Dresden, zu der sie allein gereist waren (Zinzendorf war kein Liebhaber der italienischen Oper), bei der Hasse selbst dirigierte und seine Frau Faustina Bordoni, von Theodor, der sie seinerzeit im Hause Respighi kennengelernt hatte, nach der Vorstellung herzlich begrüßt, die umjubelte Hauptrolle sang. Es war keine königliche Aufführung, und im von Hunderten von Kerzen erleuchteten Saal ging es wild zu. Damen wurden von ihren Lakaien auf Sofas in den Saal getragen, Männer ließen ihre Kartentische im hinteren Teil aufstellen, Tabakspfeifen und Getränke wurden gereicht, in der Loge nebenan raschelten hinter geschlossenen Vorhängen Kleider, und das Gestöhne erstarb erst, als die Bordoni eine Dacapo-Arie gab, die Vorhänge rissen auf wie im Marionettentheater, zwei rote Gesichter erschienen, und die dazugehörigen Hände klatschten wie wild Beifall. Auf der Bühne herrschte ein Prunk sondergleichen: Als sei der Weltuntergang nahe, rasten Sonne und Mond über den Himmel, Pallas Athene schwebte in ihrer Eulenkutsche durch die Lüfte, Jupiter und Apoll thronten in den Wolken, die Unterwelt spie Geister und Ungeheuer aus ihrem Rachen. Als im zweiten Akt einer der Vorhänge Feuer fing, entstand Panik, aber einige beherzte Männer rissen das Tuch herunter, trampelten darauf herum, und die Vorstellung konnte fortgesetzt werden.
Die ganze Zeit über hielten Theodor und Jane sich an den Händen, von ihrer Konzentration auf die Kunst in einer Umgebung, wo jedermann sich nur unterhalten wollte, in eine nobel-vergreiste Starre versetzt, blickten aufs Gewoge der Musiker, das Spiel der Lichter auf den Geigenhälsen und Perücken und lauschten der Stimme der Bordoni, ebenso gebannt jede ihrer Koloraturen verfolgend
wie ihr Gatte, der die Aufführung vom Cembalo aus mit behandschuhten Gesten steuerte.
Vor allem jedoch waren es stillere Bilder, bukolische, pastorale Augenblicke des Friedens –
Weitere Kostenlose Bücher