Der König von Luxor
Howard. Oh wie er diesen Loret beneidete. »Sie gestatten?«
Carter nahm die einzige Lichtquelle, die ihnen verblieben war, und betrachtete die Mumien auf dem Boden. Dabei gingen ihm wirre Dinge durch den Kopf. Vor seinem geistigen Auge tauchte eine Prozession kahlköpfiger, halbnackter Priester auf. Jeweils zwei von ihnen schleppten die Mumie eines Pharaos in der Dunkelheit über den schmalen Trampelpfad zu dem Grab Amenophis’ II. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen, geleitet von einem Fackelträger, und verschwanden wie Ameisen mit ihrer Beute in dem sandigen Erdtrichter. Und jetzt lagen sie vor ihm, die mächtigsten Männer des ägyptischen Reiches, oder das, was von ihnen übrig geblieben war, die Umrisse eines Menschen in brüchiger Leinwand, verdorrt, verstaubt, verfallen. Einst wie Götter verehrt und überhäuft mit allem Reichtum dieser Erde, lagen sie achtlos herum wie Tierkadaver in der Wüste. Nie war Howard die Hinfälligkeit menschlichen Lebens eindringlicher bewußt geworden.
Ein staubiges Etwas in einer kleinen Mauernische, kaum erkennbar im düsteren Lampenlicht, erregte Carters Aufmerksamkeit. »Haben Sie das gesehen, Mr. Loret?«
Loret trat hinzu. »Was ist das?«
Howard reichte dem Franzosen die Lampe und zog eine Schriftrolle hervor, nicht breiter als eine Handspanne. Aus eigener Erfahrung wußte er, daß Papyri oft brüchig waren und bei der ersten Berührung zu Staub zerfielen. Diese Rolle war in erstaunlich gutem Zustand. »Vielleicht ein Hinweis für die Nachwelt?« Carter reichte Loret die Schriftrolle.
Behutsam versuchte Loret den Paryrus aufzurollen, da begann die Petroleumlampe bedenklich zu flackern. »Wir müssen raus!« rief der Franzose aufgeregt. »Ohne Licht sind wir hier verloren.« Er steckte die Schriftrolle in sein Hemd. Überstürzt machten sich die beiden Männer auf den Rückweg durch den engen Gang.
Vor dem Schacht angelangt, klemmte Carter den Lampenbügel in seinen Gürtel und gab Loret ein Zeichen, er solle als erster den Balanceakt wagen. »Beeilen Sie sich, um Himmels willen!« rief er, als er Lorets Zögern bemerkte, »Sie sehen doch, das Petroleum geht zu Ende.«
Loret tastete sich über den Balken. Der Balken wankte, weil der Franzose die letzten Schritte mit großer Heftigkeit ausgeführt hatte und mit einem Satz auf die rettende Seite gesprungen war.
Wie eine Ewigkeit erschien es Howard, bis der Balken zur Ruhe kam. Dann machte er sich selbst auf den Weg. Etwa auf halber Strecke – Howard zitterte am ganzen Körper – hielt er inne, weil der Balken bedenklich zu schwanken begann. Dabei vollführte er eine unvorsichtige Bewegung. Die Lampe löste sich aus seinem Gürtel und sauste, noch ehe er danach greifen konnte, in die Tiefe. Ein Knall, dann herrschte Dunkelheit.
»Carter!« hörte der Lorets Stimme, »bewahren Sie Ruhe.«
Howard fühlte sich wie gelähmt, unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zur Seite zu tun. Das ist das Ende, dachte er. Und seltsamerweise war er überhaupt nicht aufgeregt, obwohl er wußte, daß ein falscher Schritt den Absturz zur Folge haben würde.
»Ganz ruhig!« wiederholte Loret mit sanfter Stimme, und plötzlich flammte von der anderen Seite ein Lichtschein auf, nicht hell genug, um seinen Weg auf dem Balken auszuleuchten, aber immerhin erleichterte der Lichtschein die Orientierung.
»Lassen Sie sich Zeit, Carter!« rief Loret im Flüsterton, »ich habe noch eine ganze Schachtel Streichhölzer.«
In kurzen Abständen entfachte Loret ein Streichholz am anderen, und Carter setzte seinen schwankenden Weg fort. Auf der anderen Seite des Schachtes angelangt, fiel er Loret in die Arme. Howard schluchzte, als die Anspannung sich löste, und es dauerte Minuten, bis er sich beruhigt hatte.
Mitternacht war längst vorüber, als die beiden Männer müde und erschöpft wie Maulwürfe auf allen vieren aus dem Erdloch krochen. Sir Henry wartete geduldig. Loret entzündete sein letztes Streichholz und hielt es über die feuerrote Schachtel. »Lucifer Matches« stand darauf in großen Buchstaben zu lesen. Der Franzose reichte Howard die Schachtel: »Zur Erinnerung, Mr. Carter. Diese Streichhölzer haben Ihnen das Leben gerettet.«
Carter nickte. Er brachte kein Wort hervor.
Ende November wurde Luxor wie in jedem Jahr zum Schauplatz emsiger Geschäftigkeit. Bevor die Schönen und Reichen aus aller Welt anreisten, um hier den milden Winter zu verbringen, wurden die Hotels an der Nilpromenade herausgeputzt, als gelte es, mit den
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