Der König von Sibirien (German Edition)
Landwirtschaft geholfen, hei Baku nach Öl gebohrt und auf dem Schwarzen Meer gefischt.«
Leonid beobachtete ihn mit spöttischen Augen. »Und alles nur, weil es dir Spaß gemacht hat.«
Alexander verschränkte die Arme vor der Brust. »Was dagegen?«
Leise und nur für ihn verständlich antwortete Leonid: »Dann bist du der erste, den ich kenne, dem Lagerhaft Spaß gemacht hat.«
Alexander schaute den Brigadier überrascht und misstrauisch an. Der stand auf, nahm sein Tablett und wollte gehen. Er zögerte und raunte Alexander zu: »Mir hat sie nämlich keinen Spaß gemacht.«
Station 22 hatte man inzwischen ausgestattet mit diversen Einkaufsmöglichkeiten, Friseur, Krankenstation, Funkstation, Sauna, kleiner Sporthalle und einer Bibliothek.
Was Besuchern und Neuankömmlingen sofort ins Auge sprang, waren die vielen Masten mit schönen, bunten Flaggen, darunter auch die der Sowjetunion. Über dem Verwaltungsgebäude - in jedem Zimmer hingen großformatige Bilder von Lenin, Karl Marx und Breschnew, als sei das Plansoll für Farbe unerfüllt geblieben - stand in großen roten Buchstaben auf weißem Untergrund die Losung des Lagers: »Für uns ist keine Herausforderung zu groß«. Etwas kleiner darunter: »Jeden Tag ein bisschen mehr als verlangt.« Damit die Beschäftigten auch immer wieder an diesen Vorsatz erinnert wurden, plärrten von Zeit zu Zeit Lautsprecher auf dem Gelände, um die Errungenschaften des Sozialismus und die Wichtigkeit der Pionierarbeit in Sibirien tief in jedes Ohr zu drücken.
Unübersehbar auch das große schwarze Brett im Vorraum der Gastiniza, auf dem neben den amtlichen Bekanntmachungen und Anordnungen auch Namen und Fotos von besonders zu lobenden Arbeitern verewigt wurden. Im Gästehaus der Siedlung, auch daran war gedacht worden, wohnte vorübergehend ein Politkommissar, zuständig für die Verwaltung des Rayons. Der hatte zwar die Größe von Belgien, aber in ihm lebten nur 10000 Menschen.
Der unentwegt von Camp zu Camp reisende Kommissar, einer der vielen parteikonformen ideologischen Animateure in diesem riesigen Land, sah es als seine Aufgabe an, mit gestelzten Worten die Arbeiter und Arbeiterinnen auf ihre Pflicht hinzuweisen, und die sei nun mal, dem Sozialismus und damit dem Frieden zu dienen. Einige der Anwesenden, der stereotypen Phrasen überdrüssig, buhten an diesem Abend und riefen: »Aufhören!« In Sibirien konnte man sich das erlauben, hier herrschten eben andere Gesetze.
»Das Ausland wird auf uns schauen und uns an unseren Leistungen messen, Genossinnen und Genossen. Deshalb meine eindringliche Bitte: Gebt alles für die Arbeit, erfüllt eurer Plansoll.«
Der Kommissar erwartete Beifall, stattdessen fragte jemand aus der zweiten Reihe nach den Schwellen, wie es denn damit aussehe. Das Sägewerk habe immer noch nicht mit der Produktion begonnen, obwohl es fertig gestellt sei und die Straße dorthin ebenfalls.
Der Kommissar stotterte etwas von unvorhergesehenen Schwierigkeiten und Planüberschreitungen und einer falschen Logistik, was die Termine und das unberechenbare Wetter angehe. Seine Entschuldigung gipfelte in der Bemerkung: »Wir hatten in der letzten Nacht den ersten Frost.«
»Aber länger als drei Monate einen schönen Sommer«, wurde ihm respektlos gekontert.
In die Enge getrieben, schmollte der Kommissar, der eigentlich dafür zuständig war, die Moral der Beschäftigten positiv, also im Sinne der Staatsführung zu beeinflussen. Aber heute kam er nicht richtig zum Zuge, die monotonen Floskeln zeigten keine Wirkung. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass es eine ungenügende Planabstimmung gab, allein verursacht durch das explosionsartige Wachstum der sowjetischen Industrie, wie der Kommissar versicherte, man also leider auch in Zukunft mit Verzögerungen rechnen müsse. »Hochwertige Güter, die dem Aufbau unseres Landes dienen, sind nun mal gefragt«, konstatierte er und war froh, einen so eleganten Ausweg gefunden zu haben. Sehr schnell wurde er wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht, als schließlich ein anderer wissen wollte, wo denn nun endlich die banalen Nägel blieben, diese einfachen, schlanken Drahtstifte, die man in das Holz treibe. Man müsse doch noch einiges zusammenhämmern, außerdem ginge ein Großteil der Prämie verloren, weil man das Soll nicht erfüllen könne.
Über die fehlenden Nägel und andere rare Ausrüstungsgegenstände tasteten sich die Arbeiter zu den Lkw vor, die auch bald eintreffen müssten,
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