Der König von Sibirien (German Edition)
Straflager SIB 12, weil es sich um eine besondere Form von Plagegeistern handelte, die sibirischen Moskitos. Jeder Stich verursachte eine kleine Schwellung und unerträglichen Juckreiz. Alexander setzte seine Wagenschmiere ein, die auch hier in großen Mengen vorrätig war. Andere Männer taten es ihm nach, die Frauen verzichteten darauf und litten weiter. Abends versuchten sie stattdessen die Schwellungen mit Eis und diversen Salben zu behandeln.
In den nächsten Wochen waren sie mit der Allwetterstraße beschäftigt. Zuerst erkundete Alexander mit Brigadier Leonid die
Strecke, sie legten den günstigsten Verlauf fest und markierten Bäume, die gerodet werden mussten. Feuchtstellen und steile Anstiege vermieden sie, lieber nahmen sie einen kleinen Umweg in Kauf. Als nächstes fuhren paarweise schwere Raupenfahrzeuge und Bergungspanzer im Abstand von etwa 30 Metern in die Taiga. Die Ungetüme waren durch eine beindicke Kette miteinander verbunden. In der Mitte befand sich eine Eisenkugel, sie drückte die Kette mit ihrem Gewicht auf den Boden. Alles, was zwischen den beiden gewaltigen Fahrzeugen wuchs, Birken, Lärchen und andere Bäume, wurde um-und ausgerissen, Stämme knickten weg wie Streichhölzer. Anschließend reinigte man die Schneise, zog die zu weit hervorstehenden Strünke samt den Wurzeln heraus und planierte den Untergrund. Zuerst kam dann eine Lage aus grobem Schotter, darüber körniger Sand. Als nächste Schicht legte man quer zum Straßenverlauf die ausgerissenen Baumstämme, die auf eine Länge von acht Metern zurechtgeschnitten waren, was der späteren Fahrbahnbreite entsprach. Abschließend verteilte man feinen Schotter, der nur noch gewalzt und verdichtet werden musste. Fertig war die Allwetterstraße - die allerdings je nach Witterung mehrmals im Jahr ausgebessert werden musste.
Zwei Monate hatten sie für die elf Kilometer gebraucht, sich von den Endpunkten vorgearbeitet und exakt in der Mitte getroffen, aus Alexanders Sicht eine beachtliche Leistung für die Brigade.
Inzwischen war Station 22, ohne Stacheldrahtzaun und deshalb für Alexander, der immer Assoziationen an seine Vergangenheit hatte, ein ungewohnter Ort, mit Arbeitern und Arbeiterinnen belegt.
Alexanders Zimmernachbar hieß Woiloda und stammte aus Leningrad. Er gehörte dem kommunistischen Jugendbund Komsomol an und hatte sich für fünf Jahre in den Osten verpflichtet. Wegen des Abenteuers und wegen der Sibirienzulage, wie er Alexander verriet, um schnell hinzuzufügen: »Selbstverständlich steht für mich der Aufbau des Sozialismus und die Erschließung Sibiriens zu unser aller Vorteil im Vordergrund.« Zweimal im Jahr durfte Woiloda wie jeder andere auch nach Westen in die Zivilisation fliegen, vier Wochen Urlaub am Schwarzen Meer gab es obendrein kostenlos. Woiloda war gerade 22, voller Enthusiasmus so wie viele Zigtausende auch und stolz darauf, dem Fortschritt zu dienen.
Alexander mit seinen 31 Jahren gehörte schon zu den Älteren, und mit der Zeit gingen ihm das empathische Gesabbere des Komsomolzen und seine Lobhudeleien auf den Geist. Bald jedoch hatte er eine besondere Form des Verhaltens gefunden, Woiloda, dem Wasserfall, gegenüber Interesse zu bekunden und sich trotzdem dabei zu entspannen.
Beim Abendessen in der Gastiniza setzte sich Leonid zu Alexander. Zuerst schlangen sie schweigend alles hinunter. Anschließend tranken sie Tee und aßen Prusnicka, frische rote Preiselbeeren, gesäumt von einer knirschenden Borte aus Zucker. Das alles ertränkten sie in Wodka, die übliche Beschäftigung am Ende eines harten Tages und sinnvoll obendrein um sich die nötige Bettschwere zu verschaffen. Allerdings kannte Alexander sein Limit genau, so dass er durch den Alkohol nie die Kontrolle verlor.
»Du kennst dich mit der Arbeit aus.« Der Brigadier schob den Teller weg.
»Ja, etwas.«
»Und wo hast du es gelernt?«
»Hier und dort.«
»Hast du keinen richtigen Beruf?«
»Ich war einmal Student. Bergbau. Das habe ich dann aufgegeben.«
Leonid beugte sich nach vorn. »Wer so rangeht wie du, hat eine harte Schule hinter sich. Kirjan Morosow, ich habe deinen Oberkörper gesehen.«
»Na und?«
»Deine Hand, die Narbe. Dann dein Schienbein.«
»Kleiner Unfall.«
Der Brigadier lächelte leicht. »Und unter der Dusche habe ich bemerkt, dass dir zwei Zehen fehlen. Was hast du alles erlebt?«
Alexander schob-nun seinerseits das Geschirr in die Mitte des Tisches. »Ich war viel unterwegs. Habe in Kasachstan in der
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