Der König von Sibirien (German Edition)
nicht mehr an und konnten nur durch Zusatzakkumulatoren und offenes Feuer zum Laufen gebracht werden. Um den Zeitplan einzuhalten, stellte man die Tätigkeit erst bei minus 42 Grad ein. Aber bereits ab minus 20 Grad froren die Arbeiter gotteserbärmlich, denn ihre Ausrüstung war mangelhaft: Jacken zu dünn, Stiefel nicht gefüttert, und die Handschuhe platzten schon beim bloßen Zupacken auf. Alle halbe Stunde versammelten sich die Frierenden um Benzintonnen, in denen ein Feuer brannte, und wärmten sich.
Über Monate legten die Arbeiter einen Bahndamm an, der an manchen Stellen bis zu 20 Meter höher war als die Umgebung. Damit er auch noch in einigen Jahren und trotz des Frosts seine Form behielt, mussten die Flanken sanft geneigt und der Untergrund befestigt werden. Zuoberst auf die Dammkrone, dort, wo später die Gleise zu liegen kamen, verteilte man eine Lage Sand, falls er nicht gerade zu Klumpen gefroren war.
Ein schroffer Berg verzögerte die Tätigkeit, Bohrwerkzeug wurde herangeschafft. Kato stand in großen Buchstaben auf den Geräten, sie stammten aus Japan.
Mitte Januar wurden endlich die Schwellen geliefert und gleich in dem Basislager mit den Gleisen verschraubt. Alle 60 Zentimeter kam eine in Teer getränkte Schwelle aus Lärchenholz, und die Schienenstücke, insgesamt waren sie 25 Meter lang, wurden auf Waggons gestapelt und zum Standort transportiert. Ein Kran hob die Fertigteile an, legte sie auf den Sanduntergrund, wo sie mit der bereits montierten Strecke verschraubt wurden. Anschließend fuhr der Zug mit den restlichen Fertigteilen um das gerade erstellte Segment weiter, das nächste Teilstück wurde verlegt. Dahinter waren derweil noch etliche Männer mit Feinarbeit, dem genauen Ausjustieren und der Aufschotterung, beschäftigt.
An diesem Abend gab es in der Gastiniza eine Überraschung: Gäste. Sie kamen aus Österreich, waren allesamt Experten im Bahnbau und wollten die sowjetischen Methoden studieren, weil sie beabsichtigten, eventuell in den Alpen eine Strecke nach ähnlichem Muster zu errichten. Alexander setzte sich neben einen der Besucher und plauderte lebhaft mit ihm auf Deutsch. Leonid, der Brigadier, wunderte sich und war doch beruhigt, weil sonst keiner Notiz davon nahm.
Der Abend dauerte viele Wodka lang. Alexander quetschte seinen Gesprächspartner Gustl Lientscher richtiggehend aus und wollte alles wissen. Besonders wie es in Deutschland zugehe, ob er manchmal dort sei und wie sich die Beziehungen zur Schweiz darstellten. Überrascht gab der Österreicher Antwort und nahm sich vor, Alexander an nächsten Tag auf die gleiche Art und Weise auszuquetschen.
Für die Ausländer hatte man jedoch eigens einen linientreuen Dolmetscher abgestellt, der mit flammenden Worten die sowjetische Version des Bahnbaus verkündete, also eine Wunschvorstellung. Die reale erläuterte Alexander, der sich in Hörweite des Dolmetschers aufhielt, wenn er dazu die Gelegenheit hatte.
»Die Bahn kostet viele Opfer«, sagte er später zu Lientscher. »Allein in unserem Abschnitt gab es bisher schon zehn Tote, und das in einem halben Jahr. Man treibt die Männer zur Höchstleistung an, Sicherheitseinrichtungen fehlen - und dann die Kälte.«
»Wir im Westen bekommen immer wieder zu hören, um eure Ausrüstung und die Motivation stehe es bestens.«
Alexander lachte. »Ja, ihr im Westen. Natürlich werden die Männer hier im Vergleich zu anderen Projekten gut versorgt. In Bergwerken oder beim Bau von Staudämmen sieht es wirklich viel schlimmer aus. Am brutalsten ist es dort, wo sich keiner aus dem Westen hin verläuft Von euch würde niemand unter diesen Bedingungen hier arbeiten. Haben Sie schon mal hei minus 40 Grad eine Schaufel in der Hand gehalten?«
Lientscher verneinte.
»Du hast kein Gefühl in den Händen, wegen der dicken Fäustlinge, falls es welche gibt. Alles gefroren, und dein Atem friert auch. Beim Einatmen hast du das Gefühl, jedes Mal einen Eisstab zu verschlucken. Deine Reaktion lässt nach, und wenn dir eine Schwelle gegen den Oberschenkel knallt, dann bricht der Knochen wie Glas. Manchmal geschieht das auch schon bei einer unachtsamen Bewegung, du brauchst nur ins Stolpern zu geraten. Um all die Schmerzen und die Kälte zu umgehen, trinken die Leute Wodka. Bereits morgens. Das ist zwar streng verboten und wird offiziell auch geahndet. Aber wenn die Verwaltung die Richtlinien befolgen würde, müsste sie jeden entlassen.«
»Warum protestiert ihr nicht? Weigert euch, bei der
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