Der König von Sibirien (German Edition)
Strecke.
Sein Zimmer, es war vier mal vier Meter groß, für sowjetische Verhältnisse wahrhaft fürstlich, mit zwei Berten, zwei Stühlen und einem Schrank bestückt, hatte er später mit noch jemandem zu teilen. Der Waschraum Tag über den Gang, die Toilette daneben. Gleich nach der ersten Benutzung merkte Alexander, sie war, obwohl neu und noch weiß glänzend, schon jetzt verstopft. Das sollte sich zu einem geruchsbelästigenden Dauerzustand ausweiten.
Von diesen rechteckigen Holzunterkünften gab es mehr als 30, und Alexander konnte sich ausrechnen, dass hier später 600 Beschäftigte wohnen würden Unter ihnen auch etliche Frauen, wie man munkelte.
Die ersten bemerkte er bereits am Abend, als er sich auf den Weg zur Gastiniza machte. Sie kamen ihm sehr luftig gekleidet vor für diese Jahreszeit, und einige waren aufdringlich geschminkt. Blau oder braun die Lider, die Augenbrauen als dicke schwarze Balken und die Lippen in einem grellen Rot. Zwei blieben stehen, als sie ihn sahen, zogen einen Spiegel hervor und frischten ihr Make-up auf.
Die Gastiniza: Restaurant, Gaststätte, Kantine, alles in einem. Außerdem diente sie als Freizeitbereich, war zugleich Aufenthaltsraum bei schlechtem Wetter und Versammlungsort für Besprechungen aller Art. Aber die Verpflegung war gut, reichhaltig und billig: Reis, Krautsalat, Gulasch, ein süßlicher Brei, Obstsaft, Tee, Fisch, Rindfleisch, Sauermilch, gekochte Fier und drei Sorten Brot. Die Brotvielfalt tat es Alexander besonders an. Und immer war es frisch, manchmal sogar noch warm.
Bepackt mit Essbarem, zahlte er an der Kasse je nach Menge und Appetit 30 bis 40 Kopeken. Frühstück, Steak und Fisch mit Zwiebelringen, dazu Schampanskoje und Wodka, gab es für 35, und Abendessen kostete nochmals 50, die Flasche Schnaps 1,20 Rubel.
Leonid, der Brigadier, ein groß gewachsener, kräftiger Georgier mit einem riesigen Schnurrbart und pechschwarzen Haaren, erzählte Alexander, er befände sich auf einem wichtigen Basislager und Materialdepot, Station 22 genannt. Von hier aus würden sie zuerst für die Lkw eine Allwetterstraße nach Norden bauen, um die Versorgung mit Schwellen und Schotter zu gewährleisten. Bis zum nächstgelegenen Sägewerk seien es acht Kilometer, der Schotter werde drei Kilometer weiter gebrochen und zerkleinert.
Auf einer Landkarte zeigte er, wie der Verlauf der 3145 Kilometer langen Magistrale geplant war. Von Ust-Kut im Westen, also noch jenseits der Lena, dann an der Spitze des Baikalsees vorbei nach Tschara, Dynda, Nora Urgal bis Komsomolsk am Amur im Fernen Osten.
Und ihr Standort befinde sich hier. Mit dem Daumen deutete der Brigadier auf einen Punkt nördlich von Tynda. »Wir haben den schwierigsten Teil«
Leonid schwärmte von dem gigantischen Vorhaben, das aufwendigste und möglicherweise zukunftsträchtigste Projekt der ganzen Sowjetunion, und behauptete, mit allen Anschlusseinrichtungen, dem Erstellen von Siedlungen, Zufahrtsstraßen und Nachschubstationen sei es das teuerste Bauwerk der Erde.
»Warum sind wir nicht direkt an der Strecke?«
Der Brigadier kratzte sich unter der Mütze. »So genau weiß ich das auch nicht.«
»Bis wann soll die BAM ...«
Leonid blickte aus dem Fenster, als stünde es dort geschrieben.
»Vielleicht in zehn Jahren? Ja, 1980 ist eine schöne runde Zahl.«
»Und wie kommt es zu dem Namen Station 22?«
»Bei uns hat doch alles eine Nummer. Ob du nun geboren wirst oder stirbst. Dein ganzes Leben bist du eine Zahl. Und Station 22 könnte bedeuten, hier bei uns entsteht der 22. Halt der BAM auf dem Weg in den Osten.«
Weil Alexander so skeptisch dreinblickte, erklärte es ihm Leonid an Hand der Transsibirischen Eisenbahn.
»Irkutsk zum Beispiel hat die Nummer 36, ist also der 36. Haltebahnhof von Moskau aus gesehen. Und bis Wladiwostok gibt es noch 60 weitere. Kapiert?«
»Das hast du aber alles schön auswendig gelernt, Leonid.«
Die Brigade begann am nächsten Tag mit der Arbeit. Zuerst mussten noch etliche Lagergebäude errichtet werden. Dazu bohrte man ein Netz von Löchern zwei Meter tief in den Boden, in die man Pfosten aus geteertem Lärchenholz stellte und anschließend mit Beton füllte. Auf die Pfosten wurden Balken genagelt, die den Fußboden des Gebäudes und die vorgefertigten Teile in der genormten Größe zu tragen hatten. Zuoberst kam das Dach aus Wellblech oder Teerpappe, je nachdem, was gerade vorrätig war.
Juni, Sommereinzug, Mückeninvasion. Und sie war noch schlimmer als im
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