Der König von Sibirien (German Edition)
Lientscher wissen, ob er Kontakt zur Schweiz habe. Es käme darauf an, um was es gehe. Alexander erwähnte, er habe vor Jahren einen Schweizer aus Bern kennen gelernt , einen gewissen Hans Brechbuel vom Roten Kreuz. Und diesem Hans Brechbuel habe er einen Brief mitgegeben für eine deutsche Bekannte.
»Eine Frage, Herr Lientscher: Kann ich Ihnen vertrauen?«
Der Österreicher sah ihn schräg an. »Jetzt müsste ich eigentlich beleidigt sein. Natürlich können Sie mir vertrauen. Haben wir nicht offen über alles gesprochen?«
»Allerdings brauchen Sie im Gegensatz zu mir keine Konsequenzen zu befürchten, falls etwas herauskommt.«
»Das stimmt. Was also kann ich für Sie tun?«
Ob er bitte so freundlich sei und ebenfalls einen Brief mitnehme? Der Österreicher hatte keine Bedenken. Und ob er der Adressantin, falls es für ihn möglich sei, sie in Düsseldorf aufzusuchen, von ihm, Alexander Gautulin, erzählen könnte?
Lientscher sah ihn erstaunt an. »Aber Sie nennen sich doch Kirjan Morosow.«
Alexander rückte etwas näher. »Frau Birringer hat mich als Alexander Gautulin kennen gelernt .«
»Verstehe. Ich soll also der betreffenden Dame von Ihnen erzählen, wie Sie leben, was Sie machen.«
Alexander schluckte. »Und dass es mir .... gut geht.«
Nachdenklich betrachtete Lientscher den hageren Mann mit den glatt nach hinten gekämmten Haaren, den zusammengepressten Lippen und dem Grübchen mitten auf dem Kinn. Was ihn verwirrte, waren Alexanders Augen, von einer Eindringlichkeit oder was immer, die den Österreicher zwang, den Blick zu senken. Augen mit einer Kraft, die verstörend wirkte und ihn in die Defensive drängte. Aber im Widerspruch dazu war etwas im Verhalten des Russen, das so gar nicht zu ihm passte. Trauer und Niedergeschlagenheit glaubte Lientscher herauszulesen.
»Versprochen. Ich fahre nach Düsseldorf.«
»Es kann natürlich sein«, begann Alexander zögernd, »dass sie inzwischen verheiratet ist und einen anderen Namen trägt. Würden Sie trotzdem ...«
Lientscher war bereit, und er steckte zwei Briefe ein. In jedem stünde das gleiche. Einen möge er bitte einem Kollegen geben, den anderen behalten.
»Warum diese Vorsichtsmaßnahme?«
»Sie sind Ausländer. Obwohl man Sie eingeladen hat, sind Sie trotzdem ein potentieller Feind. Alle Kapitalisten sind Feinde.« »War Österreicher sind neutral.«
»Für den Sozialismus gibt es keine Neutralen. Dazu liegt ihr zu weit im Westen.«
Der Frauenanteil im Lager, wohl an die 3o Prozent, wie Alexander schätzte, war für sibirische Verhältnisse erstaunlich hoch. Sozialistisch und moralisch streng getrennt hatte man das eine Geschlecht hier untergebracht und das andere dort, allerdings hielt sich niemand an diese Regelung. Wie nicht anders zu erwarten, begann deshalb jeden Abend, das Bordell in Wankoje war teuer und mehr für Direktoren und Politfunktionäre gedacht, eine regelrechte Wanderung.
Eine Anna interessierte sich sehr für ihn, weil er - wie sie sagte -so schweigsam sei und nicht die blassen Sprüche der anderen von sich gebe. Kennengelernt hatte er Anna eines Abends beim Tanz in der Gastiniza. Tische und Stühle waren auf die Seite geräumt worden, damit sich die Paare bewegen konnten. Eine Band spielte auf, die Männer trugen lange Haare, Sonnenbrillen, und ihre Hosen hatten einen weiten Schlag. Dazu machten sie sich die Seele frei und anderen die Ohren voll. All dies kannte Alexander noch nicht, dafür aber Anna umso besser. Sie erzählte ihm von der Popmusik aus dem Westen, schwärmte von den Beatles, den Rolling Stones und den Beach-Boys, alles Namen, die Alexander zum ersten Mal hörte.
»Im letzten Jahr habe ich in Moskau ein großes Popkonzert besucht. Wirklich phantastisch.«
So wie Anna die Augen verdrehte, kam da kein Orgasmus mit. Obwohl, wie Alexander sich später überzeugen konnte, Anna auch das phantastisch fand. Alles fand sie phantastisch: die BAM, die Weite des Landes, Bäume, Seen, reine Luft, das Essen und die vielen Bekanntschaften, die man machen konnte.
Alexander schloss sich gleichfalls der abendlichen Völkerwanderung an, und Woiloda, sein Zimmergenosse, fluchte auf ihn, weil er sich so der Fleischeslust hingebe und seine Kraft woanders lasse als dort, wo sie gebraucht werde. »Du betrügst den Staat«, rief er ihm einmal erbost hinterher.
Nun, Woiloda rief so lange, bis auch für ihn, der mit Pickeln im Gesicht nicht gerade zu den schönsten seiner Art zählte, eine Frau abfiel. Sie ergänzten
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