Der König von Sibirien (German Edition)
drauf los, wie in einem Rausch. Diese zum Teil einseitige und unfaire Art, meine angebliche Überlegenheit zu dokumentieren, mich als Richter über Leben und Tod aufzuspielen, brauche ich nicht.«
Alexander war von dieser Einstellung beeindruckt.
Stundenlang wanderten die beiden. Der Brigadier machte ihn auf Auerhähne, Hasel-und Birkhühner aufmerksam, die wegen ihrer Tarnfärbung nur sehr schwer zu erkennen waren. Erst recht, wenn sie sich an einen Birkenstamm schmiegten.
Von einer Bergspitze zeigte Leonid ihm unten im Tal einen Fluss, der sich tief in den Untergrund geschnitten hatte. Türkisblau glitzerte das Wasser, der Himmel und die Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegelten sich darin. Etwas oberhalb war eine helle Felswand zu sehen, ein gigantischer Prallhang, den das Wasser in Jahrtausenden bearbeitet und abgeschliffen hatte.
»Das ist der Witim. Na, was sagst du jetzt?«
Alexander ließ seine Blicke über die Landschaft schweifen. Wohin das Auge schauen konnte, nur Grün in allen Schattierungen und die Oberfläche der Kuppen gewellt. Weiter im Norden waren höhere Berge zu sehen.
»Das Stanowojgebirge«, erklärte Leonid.
Linker Hand veränderte sich das Grün, wurde heller und wechselte auch schon stellenweise ins Gelbliche. Ein riesiger Lärchenwald, dessen Nadeln bald abfallen würden, und daneben vergilbte Arven.
»Schön hier. Und ruhig. Ich spüre die Kraft der Natur. Sie ist sie ist souverän.- Alexander schloss die Augen.
»Mit dem Verstand ist Russland nicht zu erfassen.«
»Wie bitte?«
»Das hat vor vielen Jahren Tjutschew gesagt, ein Schriftsteller.«
Sie hockten sich auf die Erde und schwiegen lange.
»Hast du jemals in deinem Leben einen Freund gehabt?«
Alexander fixierte den großgewachsenen Leonid von der Seite, dessen Gesicht ausdruckslos wirkte. »Was soll die Frage?«
»Im Augenblick bist du der einsamste Mensch, den ich kenne. Misstrauisch, unentwegt unter Spannung stehend und auf dem Sprung, wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Ist das immer so gewesen?«
Alexander zögerte mit der Antwort. »Nein.«
»Jugendfreunde gab es die?«
»Ja.«
»Sei doch nicht so gesprächig. Und später auf deiner langen ... Wanderschaft?«
Alexander schaute ins Tal. »Was ist schon ein Freund.«
»Och, nichts Ungewöhnliches, nur ein Wesen aus Fleisch und Blut, dem man vertrauen kann.«
Alexander lachte hart. »Vertrauen, was ist das?«
»Dir zum Beispiel würde ich vertrauen.«
»Mir?« Alexander sah den Georgier skeptisch an. »Du kennst mich doch kaum.«
»Das ist nicht so entscheidend. Es ist eher ein Gefühl, eine Art eine Art Intuition. Entweder ist es da, oder es kommt nie.«
Alexanders Lippen bewegten sich kaum, als er entgegnete: »Ich vertraue nur mir allein.«
Leonid war nicht gekränkt. Sein leichtes Nicken zeigte vielmehr, dass er Alexander zu verstehen schien.
Sie erlegten ein Reh, das sich den Vorderlauf gebrochen hatte und hilflos umherhumpelte, häuteten es und brieten das Fleisch am Abend vor der Hütte. Was sie nicht verzehren konnten, legten sie in ein kühles Erdloch. Leonid, der sich als guter Koch herausstellte und vorzügliche Pilmeni machte, kleine, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, die mit Preisel-und Moorbeeren gereicht werden, zündete sich eine Zigarette an und sprach von seiner Zeit als Lagerhäftling. Je mehr er erzählte, desto mehr hoffte er, auch Alexander würde etwas von sich preisgeben. Aber der schwieg und wollte all seine Erinnerungen für sich behalten, tief im Innern in einem Safe aus Hass, Verachtung und Widerwillen gegenüber dem Staat. Ihm allein gab er die Schuld an allem, obwohl ihm jemand vor vielen Jahren doch die Dollar hatte zustecken müssen.
»Du bist so ...« Leonid suchte nach dem richtigen Wort.
»Intelligente behaupten in einem solchen Fall, man sei introvertiert. Klingt ja auch irgendwie gut.«
»Und was sagst du? Nicht, dass ich dir keine Intelligenz zutraue.«
»Nimm es bitte nicht persönlich: Lass mich in Ruhe.«
Leonid lächelte verständnisvoll. »Mir ging es auch viele Jahre so. Aber eines wundert mich, Kirjan: Deine Ideen und Vorschläge zur Erfüllung des Plansolls. Ich frage mich: Warum setzt du dich so für das System ein? Müsstest du es nicht sabotieren und schädigen?«
»Eine Zeitlang war das mein größtes Verlangen.«
»Und jetzt?«
Alexander überlegte. »Ich habe mich mit ihm arrangiert.« In der Nacht Tag Alexander lange wach und erkannte deutlich den Widerspruch in seinem Verhalten.
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