Der König von Sibirien (German Edition)
einer Aktentasche. Und er war auch nicht allzu schwer.
In seinem Hotel angekommen, betrachtete Alexander den Inhalt. Fotos, ein kleines Album voll, dazu Briefe und ein ganzer Stapel beschriebener Blätter. Alexander erkannte die Handschrift seiner Mutter. Zuerst sah er sich die Bilder in dem Album an. Sie waren vergilbt und zeigten ein Mädchen und einen Jungen. Jahre später waren beide zusammen auf ihrer eigenen Hochzeit zu sehen, glücklich lächelte das Brautpaar in die Kamera. Die Braut wurde runder, auf einem anderen Bild hielt sie ein Baby auf dem Arm. Daneben stand der stolze Vater. Hier hörten die sonderbaren Fotos auf. Die übrigen kannte Alexander. Seine Mutter war abgebildet, ebenfalls mit einem, jetzt schon größerem Kind auf dem Schoß, ihrem Sohn Alexander, daneben stand sein Vater. Und der Sprössling wuchs, die Eltern schienen sich zu freuen. Die anderen Abbildungen zeigten Alexander zu Hause bei den Schulaufgaben, während eines Ausflugs auf der Omsker Festung mit einem Eis in der Hand, er erinnerte sich nicht, dass seine Eltern ihn fotografiert hatten, und an seinem zehnten Geburtstag. Mitten auf dem Tisch stand ein großer, mit Schokolade überzogener Kuchen, zur damaligen Zeit eine Rarität. Er saß mit glänzenden Augen und gefalteten Händen daneben, als könnte er es nicht fassen. Das nächste Bild: Seine Mutter trug Schwarz, ihr Mann war gestorben. Alexander wurde größer und größer, war zuerst ein junger Mann in Uniform und auf dem letzten Foto ein Student.
Zögernd nahm Alexander die beschriebenen und zusammengefalteten Blätter, sie waren an ihn gerichtet.
»Lieber Alexander!
Es ist alles so schrecklich. Vor zwölf Jahren Dein Vater und jetzt Du im Gefängnis. Ich habe niemanden mehr. Das Leben hat nur genommen und mir nichts geschenkt. Was bleibt einer alten, einsamen Frau noch, die ahnt, sie wird Dich wahrscheinlich nie wieder sehen? Es soll so schlimm in den Lagern sein. Ja, ich weiß, sie haben dich nicht in ein normales Gefängnis gesteckt, sondern in eines der Arbeitslager. Man hört ja so viel Schlimmes über sie, Gräueltaten und mehr.
Warum ich diesen Brief an Dich schreibe, ich weiß es nicht. Die Tusanskaja hat zu mir gesagt, ich solle es lassen. Du würdest ihn ja sowieso nie lesen, würdest nie mehr auftauchen. Weshalb also die Mühe? Aber ich tue es auch für mich, weil ich mich Dir gegenüber schuldig fühle. Ich hätte Dich schon längst aufklären sollen, jedoch fand ich in all den Jahren nicht den Mut. Damals, als Du noch zur Schule gingst, dachte ich, ich könnte auch noch Dich verlieren. Außerdem musste ich ein Versprechen halten, erst mit fünfzehn sollte ich Dir alles erklären. Aber, wie gesagt, mir fehlte der Mut, zudem hatte ich Angst vor der Einsamkeit.
Alexander, ich bin nicht deine leibliche Mutter. Sie starb, als Du knapp ein Jahr alt warst. Und Dein Vater ist auch nicht Dein leiblicher Vater. Aber nun von vorn.
Deine Mutter und ich waren Freundinnen, wie es bessere nicht geben kann. Wir sind beide Wolgadeutsche und haben unsere Jugend in unserer autonomen Republik in Russland verbracht. Ich heiratete Deinen Vater, einen Weißrussen, und wurde zu Natascha Gautulin. Deine Mutter jedoch heiratete den Wolgadeutschen Kurt Koenen, und Dir gaben sie den Namen Robert. In Wirklichkeit also heißt du Robert Koenen. Dein Vater verschwand kurz nach Deiner Geburt, er hat sich der deutschen Wehrmacht angeschlossen. So, wie viele andere auch, als Hitler den Krieg erklärte und im Spätsommer 1941 unser Land angriff.
Stalin reagierte prompt. Alle Wolgadeutschen, auch wir, die wir auf einer Kolchose nahe Saratow wohnten, wurden vertrieben und in den Osten zwangsumgesiedelt. Man sagte, wir seien Spione von Adolf Hitler, und bezeichnete uns als Schädlinge der Sowjetunion. Auf dieser grausamen Deportation sind viele vor Entkräftung umgekommen oder an Krankheiten gestorben, so auch Deine Mutter. Aber Tanja, so hieß sie, hatte keinen Lebenswillen mehr. Sie konnte es einfach nicht überwinden, dass ihr Mann Kurt sie verlassen hat, um sich der Wehrmacht, dem Erzfeind, anzuschließen. Ja, wir waren zwar Deutsche, aber wir fühlten uns durch Hitler angegriffen.
Kurzum, die Wanderung ging für die meisten weit nach Osten oder sogar bis nach Kasachstan. Für uns endete sie bereits in Omsk, weil Dein neuer Vater Gautulin ein Weißrusse war. Deshalb hatten wir es auch nicht ganz so schlimm wie die anderen. Dich habe ich als mein Kind ausgewiesen, wie ich es Deiner Mutter
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